Bild nicht mehr verfügbar.

Kilian Kleinschmidt.

Foto: APA/Lechner

Lech – Kilian Kleinschmidt ist 53 Jahre alt. Mehr als die Hälfte seines Lebens war er im Ausland: Kosovo, Südsudan, Nairobi, Pakistan. Zuletzt war er als Leiter des Flüchtlingslagers Zaatari in Nord-Jordanien. Eine Art Bürgermeister, wie er sagt. Er hat viel erlebt, und auch alles überlebt. Doch Kleinschmidt, der eigentlich aus Deutschland stammt, meint, dass es die bisher schwierigsten Flüchtlinge waren, die er je erlebt hat. Aber auch mit Problemen kann er. Sein Beiname ist nicht umsonst "Der Löwe".

UNO-Flüchtlingshilfe

Eigentliche Probleme werden ausgeblendet

Am 9. Europäischen Mediengipfel in Lech am Arlberg hält er eine Brandrede. Sein Thema: Die Flüchtlinge und die europäische Gesellschaft. Er empört sich darüber, dass es seit jeher Völkerwanderungen gegeben hat: "Wir sind alle Flüchtlinge. Wir müssen umdenken. 'People on the road' – was ist das überhaupt?"

Seiner Meinung nach wird nicht an komplexen Strategien gearbeitet, sondern im Gegenteil: Alles ist kurzsichtig. Die europäischen Politiker versuchen sogar, die Problematik mit Geld zu kaufen. Ein Tauschhandel: Europa gibt Geld, damit sich Auffanglager finanzieren können. Und Flüchtlinge werden dann dort mit dem Nötigsten versorgt. Aber das löst nichts. Wenn man, wie Kleinschmidt, einen deutschen Pass hat, kann man sich relativ leicht auf der Welt bewegen. Ein Flüchtling kann das nicht. Europa ist reich genug. Deshalb fordert er von der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel – neben einem Klimagipfel – auch einen Migrationsgipfel. Und er fordert mehr: Dass sich Menschen legal von A nach B bewegen können.

cosmotay

Die Situation vor Ort

Immer und immer wieder betont Kleinschmidt, dass 90 Prozent der Flüchtlinge nicht in Lagern leben. Sie leben auf der Straße. Oder sind auf dem Weg. Eben "on the road".

In Afrika gilt oft das Motto: Arm plus arm gleich doppelarm. Das ist eine einfache Regel. Flüchtlinge werden von anderen armen Menschen aufgenommen. Aus Solidarität. Und das nicht in Lagern, sondern privat. Denn ein Lager ist wie ein Abstellgleis. Wie "ausgelagert" und "abgestellt".

Jeden Tag rebellieren Flüchtlinge deshalb im Lager, einfach, weil sie das Versagen der Menschlichkeit deutlich machen wollen. Sie demonstrieren. Immer wieder. Warum fragt man sich. Sie haben doch überlebt. Sie haben zwar keine Arbeit und keine Perspektive, aber für Essen und Trinken ist gesorgt: 2.100 Kilokalorien. Jeden Tag. Immer das gleiche Essen. Eigentlich genug, um zu überleben, denkt man als Außenstehender. Aber mal ehrlich: Würde uns das gefallen? Gemeinschaftstoiletten, Gemeinschaftsduschen, gleiches Essen, immer nur Wasser, tagein tagaus, alles gleich. Ein Mensch, der flieht, braucht mehr: Nämlich das Gefühl von Sicherheit. Auch das Gefühl der Individualität. Damit man sich selbst wieder aufbauen kann. Das ist das, was für jeden einzelnen zählt. Lager werden zu Lebensräumen. Einem Heim für Vertriebene. Aus seiner Erfahrung heraus berichtet er: "So entstand eine ganz eigene Entwicklung in den Lagern: Toiletten wurden illegalerweise abgebaut und privatisiert." Eine Art Handel entstand. Und einer der am schnellsten wachsenden Märkte des nahen Osten. Insgesamt 15 Millionen Euro Umsatz im Jahr. Mit 3000 Geschäften. Dieses Lager steht für alle Lager der Welt. Wir müssen aufhören mit der künstlichen Trennung von Kriegsflucht, Wirtschaftsflucht und Klimaflucht. Wir haben nicht begriffen, worum es eigentlich geht – und das sind die Menschen."

Radikales Umdenken notwendig

"Es gibt Krisen, die werden gut finanziert, und welche, die schlecht finanziert werden", so Kleinschmidt. Daher fordert er ein radikales Umdenken. Kooperationen auf vielen Ebenen. Die Politik ist genauso gefragt wie die Wirtschaft. Innovationen bringen nichts am Erfinderort. Sie müssen verknüpft werden mit den Menschen, die davon profitieren können. Deshalb gründete Kleinschmidt eine Innovationsagentur in Wien. Diese sorgt dafür, dass beispielsweise 3D Drucker Prothesen für Flüchtlinge herstellen.

Insgesamt fordert er bessere Handelsmöglichkeiten für Flüchtlinge, sodass diese in den Wirtschaftskreislauf eingebunden werden. Außerdem: Legale Möglichkeiten der Migration schaffen – nicht nur für Fliehende, sondern auch für Arbeitsmigranten und Studenten. Jeder sollte sich frei in der Welt bewegen können. Ganz nach dem Motto: Migration ist kein Vergehen, sondern eine Chance. (Vera Gasper, 4.12.2015)

Mediengipfel Lech