Jetzt hat David Cameron, nach langem Drängen, endlich seinen Brief an EU-Ratspräsident Donald Tusk gesandt, in welchem er Britanniens Forderungen nach Veränderungen in seiner Position vis-à-vis der Europäischen Union klarlegt. Wie er selbst im Brief sagt, geht es dabei nur um die Grundzüge, die Details sollen den Verhandlungen überlassen werden. Der britische Premierminister würde diese Verhandlungen am liebsten bereits beim Ratsgipfel an diesem Mittwoch abschließen.

Cameron hat den britischen Wählern 2013 versprochen, dass er bis spätestens Ende 2017 ein Referendum über den EU-Verbleib abhalten wird. Er wollte damit seine eigenen (etwa 100) EU-skeptischen Parlamentarier von weiteren destruktiven Diskussionen abhalten. Diese scheinen sich – wie zu erwarten – durch keinen Verhandlungserfolg ruhigstellen zu lassen; die Wähler der Ukip (United Kingdom Independence Party, die bei den Europaparlamentswahlen die Stimmenmehrheit erlangt hat) erst recht nicht. Die Stimmung in England ist aufgeladen: Zusätzlich zur innerbritischen Debatte verstärken die Misserfolge der Eurozone bei der Krisenbekämpfung, die Flüchtlingskrise und die Paris-Anschläge die ohnehin äußerst EU-skeptische Volksmeinung.

Vier Reformbereiche

· Cameron möchte Änderungen in vier Bereichen rechtlich bindend festschreiben. Als Erstes will er "ein Veto für Entscheidungen der Eurozone", die Auswirkungen auf die neun Nicht-Eurozonen-Länder haben. Er will festgeschrieben sehen, dass die EU mehrere Währungen enthält, dass es keine Diskriminierungen für "Outs" geben darf, dass die Integrität des Binnenmarktes (der Londoner Finanzmarkt) gewährleistet sein muss, um Ausnahmen von der Bankenunion, um die Eigenständigkeit der britischen Finanzmarktaufsicht, um die Feststellung, dass Outs nie für Aktivitäten der Eurozone mitzahlen müssen, et cetera zu erreichen.

· Der zweite Bereich betrifft die "Wettbewerbsfähigkeit", das Hauptanliegen der Briten in der EU. Da geht es um weitere Deregulierung, um die Vereinheitlichung des digitalen Marktes, aber auch um die Forcierung der Kapitalmarktunion (wie dies mit der Ablehnung der Bankenunion zusammenpasst, bleibt Camerons Geheimnis). Wichtig ist ihm hier die Aufrechterhaltung von drei der vier Grundpfeiler des Binnenmarktes: dem freien Fluss von Kapital, Gütern und Dienstleistungen (nicht jedoch von Personen!).

· Im dritten Bereich geht es um "Souveränität". Damit will er eine rechtlich bindend festgeschriebene Ausnahme vom EU-Ziel einer "immer engeren Union", einen Vorrang des britischen vor Beschlüssen des Europäischen Parlaments sowie eine verklausulierte Ausnahme von Urteilen des Europäischen Gerichtshofes erreichen.

· Und viertens, und da wird es besonders haarig, geht es um "Immigration". Großbritannien will die Zuwanderung sowohl von außerhalb der Union als auch von innerhalb der EU stoppen. Letzteres widerspricht eindeutig der Niederlassungsfreiheit des EU-Vertrages. Die xenophobe Stimmung im Land hat ihn auch dazu veranlasst, in der laufenden Flüchtlingsaufteilungsdebatte das "großzügige" Angebot zu machen, 20.000 Flüchtlinge innerhalb von drei Jahren aufzunehmen. Konkret will Cameron bestimmte Sozialleistungen für Immigranten erst nach vier Jahren Aufenthalt zahlen und im Ausland lebenden Kindern die Kinderbeihilfe streichen.

Angst vor EU-Gegnern

Lange hat Cameron gezögert, in einem Brief seine Verhandlungswünsche festzuschreiben, in der richtigen Annahme, dass die EU-Gegner sie sofort als zu wenig radikal zerfleddern würden. Andererseits wurden es seine EU-Kollegen leid, dauernd von nicht definierten Wünschen nach Neuverhandlungen für Großbritannien zu hören – ohne Inhalte zu kennen. Cameron kann seinen EU-Kollegen natürlich nicht garantieren, dass ihr Eingehen auf seine Wünsche die EU-Befürworter beim Referendum gewinnen lässt. Er verspricht nur, sich bei Verhandlungserfolg voll für die Beibehaltung der Mitgliedschaft einzusetzen.

Es geht ihm taktisch-strategisch um zwei Ebenen: Die eine ist die Verhandlung mit den EU-Partnern, wobei besonders jene Länder, die starke Abwanderung nach England haben, vor allem Polen, die Balten sowie Rumänen und Bulgaren, massiv gegen Verschlechterungen für ihre Staatsbürger sind. Trotz allgemein zustimmender Worte vieler Regierungschefs bleibt es "Rosinenpicken". Es bleibt die Grundsatzfrage, ob der Verbleib Großbritanniens (oder Englands, wenn Schottland austritt) diese weitere Sonderbehandlung (man denke hier nur an den Britenrabatt und die permanenten Vetos in Steuerfragen etc.) wert ist – oder ob man damit nicht den weiteren Zerfall der EU mit befördert.

"Vote Leave"

Die für Cameron wichtigere Frage aber ist die innenpolitische: Eine Reihe seiner eigenen Minister, ein Drittel seiner Abgeordneten, mindestens die Hälfte des Stimmvolkes (wenn nicht mehr) sind für einen EU-Austritt. Die "Vote Leave"-Kampagne wird schon mit vollem Karacho geführt; Unternehmen die sich für einen Verbleib aussprechen, werden mit Boykottmaßnahmen bedroht und Ähnliches. Mit seiner Zusage zum Referendum hat sich Cameron schwerst verkalkuliert. Er hat damit den Gegnern erst recht Auftrieb verliehen – und ihnen ein Ziel-Event an die Hand gegeben, auf das hin kampagnisiert wird. Da tun sich rationale Argumente über die auch kommerziellen Vorteile der Europäischen Union schwer: Emotional wirksam lässt sich nur gegen die EU ("für Souveränität, für unsere Selbstbestimmung, gegen den EU-Bürokratie-Moloch") agitieren.

In den nächsten Tagen werden britische Diplomaten und Regierungsmitglieder, allen voran Cameron und Finanzminister George Osborne, alle Register ziehen, um Zustimmung von ihren EU-Partnern zu erhalten. Das österreichische Parlament, die österreichische Bevölkerung müssen in die Haltung der österreichischen Regierung miteingebunden werden. Wir müssen eine Debatte führen, wie die EU trotz Terrors, trotz Eurokrise, trotz Flüchtlingskrise, trotz Abspaltungen, trotz des egoistischen Wegs Englands weiterentwickelt und wie dem drohenden Zerfall Einhalt geboten werden kann. Die rasch zu lösende Frage ist, ob wir dazu weiterhin einen unwilligen, schwierigen Partner wie Großbritannien benötigen. Die nach den Terroranschlägen in Paris neu aufgeflammte Diskussion um die europäische Antiterrorpolitik wird durch das vehemente Drängen David Camerons auf Zustimmung seines Parlaments zum Bombereinsatz (und mehr?) in Syrien auch nicht leichter.

Österreich muss entscheiden

Wir in Österreich brauchen raschest eine parlamentarische Enquete, eine offene Diskussion mit der Regierung. Es geht ganz grundsätzlich um den Fortbestand der Europäischen Union. (Kurt Bayer, 1.12.2015)