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Handschlagqualität: Ahmet Davutoğlu (li.) und EU-Ratschef Donald Tusk in Brüssel.

Foto: Reuters / Yves Herman

Ahmet Davutoğlu schwebte auf einer Wolke. Er habe die Staats- und Regierungschefs der EU zum ersten Mal einig und positiv in der Frage des türkischen Beitritts gefunden, sagte der neue alte Premierminister nach dem Gipfel in Brüssel. Sogar Österreich habe seinen Widerstand aufgegeben und die Aufhebung des Visazwangs unterstützt, so zitierte am Dienstag die regierungsnahe Tageszeitung "Türkiye" den Premier. Türkische EU-Experten und Kommentatoren, die sich näher mit den Beitrittsverhandlungen befassen, zeigen sich allerdings zurückhaltender.

So wies der proeuropäische Istanbuler Thinktank IKV auf die Liste von nicht weniger als 72 Vorgaben hin, die das Land noch zu erfüllen habe, bis der Visazwang für Reisen in die EU tatsächlich fallen könnte. Neben der Neuausgabe von Reisepässen für alle Türken – die erst 2010 eingeführten biometrischen Ausweise fand die EU-Kommission unzureichend – geht es vor allem auch um die Umsetzung des 2013 unterzeichneten und 2014 ratifizierten Abkommens mit der EU zur Rücknahme illegaler Einwanderer.

Unklarheit über Visafreiheit

Anders als der türkischen Öffentlichkeit vermittelt worden sei, beginne das visafreie Reisen nach Europa auch nicht einfach im Oktober 2016, stellt die Stiftung für wirtschaftliche Entwicklung (IKV) klar. Geplant ist vielmehr, dass die EU-Innenminister zu diesem Zeitpunkt bewerten, ob und wie die Türkei die Bedingungen für die Aufhebung des Visazwangs erfüllt hat. Wofür Brüssel zuvor zwei Jahre angesetzt hatte, genügte plötzlich knapp ein Jahr, merkt man beim IKV ironisch an.

Prinzipienreiter wie Harun Gümrükçü, Professor für Internationale Beziehungen an der Akdeniz-Universität in Antalya, werteten den Brüsseler Gipfel vom vergangenen Sonntag sogar als Niederlage für die Türkei: Davutoğlu habe das Kapital verspielt, das in den zurückliegenden Jahren durch europäische Gerichtsentscheidungen zugunsten türkischer Staatsbürger und deren Recht auf visafreies Reisen aufgebaut worden sei. Die Türkei brauche gar keinen "Fahrplan" zur Aufhebung des Visazwangs, argumentiert Gümrükçü, sie könne das vor Gericht erstreiten. Der Professor beruft sich auf das Assoziationsabkommen von 1963 zwischen der Türkei und der EWG. Die Serie der für die Türken günstigen Rechtsentscheidungen ging jedoch 2013 zu Ende; damals entschied der Europäische Gerichtshof in Luxemburg gegen die türkische Studentin Leyla Demirkan, die ihren Stiefvater in Deutschland besuchen wollte – ohne Visum.

Kommentatoren in den verbliebenen regierungskritischen Zeitungen wollen in dem Gipfeltreffen vom Sonntag auch keinesfalls den "großen Sieg" der Türkei erkennen. Brüssel habe die Kopenhagen-Kriterien und das Recht auf freie Meinungsäußerung beiseitegestellt und Ankara drei Milliarden Euro versprochen, damit es keine syrischen Flüchtlinge mehr nach Europa lässt, schrieb Asli Aydintasbas in der Tageszeitung Cumhuriyet. Deren Chefredakteur und Ankara-Bürochef waren vergangenen Freitag wegen Spionage verhaftet worden; sie hatten über mutmaßliche Waffenlieferungen des türkischen Geheimdienstes an Rebellen in Syrien berichtet.

Trotz des offenkundig besseren Klimas zwischen der Türkei und der EU wurden schließlich auch Zweifel an den seit zehn Jahren laufenden Beitrittsverhandlungen selbst laut. Von einer "Schließung" bereits verhandelter Kapitel wolle Brüssel nichts hören. (Markus Bernath, 1.12.2015)