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Afghanische Flüchtlinge erreichen die griechische Insel Lesbos, nachdem sie von der türkischen Küste aus die Ägäis durchquert haben. Derlei Ankünfte will Ankara in Zukunft verhindern.

Foto: AP / Santi Palacios

Von den Umständen her scheint die Situation in den von der Flüchtlingskrise meistbetroffenen EU-Staaten für nachhaltige Lösungen innerhalb der Union wie auch mit dem neuen alten Partner Türkei so günstig wie lange nicht: Der Problemdruck lässt mit dem beginnenden Winter nach.

Kamen seit August jeden Tag bis zu 8.000 Flüchtlinge (und mehr) am Ende einer langen Reise auf der Balkanroute in Deutschland an, so sind es derzeit knapp 3.000. Das hat die Bundespolizei am Montag bestätigt, gleich nach dem Abschluss eines gemeinsamen Aktionsplans, den die Staats- und Regierungschefs der EU mit dem türkischen Ministerpräsidenten Ahmed Davutoğlu beim Gipfel in Brüssel Sonntagabend vereinbart hatten. Ähnlich entspannt sich die Lage in Österreich und Schweden.

"Historisches" Abkommen

Davutoğlu nannte das Abkommen mehrfach "historisch", einen "Wendepunkt". Tatsächlich sieht die neue Partnerschaft – man will sich zweimal pro Jahr auf höchster Ebene treffen – nicht nur eine enge Kooperation im Bereich Flüchtlinge und Kontrolle der EU-Außengrenzen vor, in deren Rahmen die Regierung in Ankara drei Milliarden Euro von den EU-Partnern erhält, die sie für ihre im Land aufhältigen 2,3 Millionen Flüchtlinge aus Syrien einsetzen muss, um deren humanitäre Lage zu verbessern und den Kindern Schulbildung zu ermöglichen.

Die EU geht auf die Türkei "in einem breiteren Rahmen" zu, betonte Kommissionschef Jean-Claude Juncker: So soll das seit langem in Arbeit befindliche Programm zur Abschaffung der Visapflicht beschleunigt, die Rückübernahmeabkommen für abgelehnte Asylwerber flottgemacht werden. Die Kommission wird 2016 einen Bericht vorlegen. Anfang 2017 spätestens sollen Türken visumfrei in die Union einreisen dürfen. Die Verhandlungen über einen EU-Beitritt sollen in Schwung kommen – was nichts an dem Umstand ändert, dass ein baldiger Beitritt nicht ansteht.

Lösung für geteiltes Zypern möglich

Und es könnte nach Jahrzehnten des Streits und der UN-Vermittlung bald eine Lösung für das geteilte Zypern geben. Zypern stimmte der Drei-Milliarden-Hilfe an die Türkei zu, wird das mitfinanzieren. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel sagte, man habe sich die weitreichende Annäherung zur Türkei "noch vor ein paar Wochen nicht vorstellen können".

Die Frage ist nun, ob und wie rasch die Ziele des Aktionsplans umgesetzt werden, ob illegale Migration in den EU-Raum bald unterbunden werden kann, wie die EU hofft. Wie schon bei der Eurokrise und Griechenland ist Merkel auch beim Thema Flüchtlinge die wichtigste Akteurin auf EU-Ebene, wo sich vor allem Staaten aus Osteuropa (Ungarn, Polen, Tschechien, Slowakei) der Solidarität entziehen und den Aufteilungsschlüssel für Flüchtlinge nicht akzeptieren wollen.

Dem machtbewussten Juncker (wie Merkel ein Christdemokrat) ist diese neuerliche starke Rolle Berlins suspekt. Frankreich, vom sozialistischen Präsidenten François Hollande gelenkt, ist ganz mit dem Kampf gegen den Terror, dem Schmieden einer militärischen Allianz gegen den IS in Syrien beschäftigt und in der Flüchtlingsfrage eher reserviert. Hollande, der sicherheitspolitische Anführer in der Union, sucht und braucht aber die Achse zu Merkel.

Faymann kann mit allen

Beide wollen die EU der offenen Grenzen gemäß Schengen bewahren. In dieser heiklen Konstellation kommt Österreich eine Vermittlerrolle zu, die sich bei einem Sondertreffen der "kerneuropäischen" Staaten (mit den Nettozahlern aus Benelux, Schweden, Finnland) herauskristallisierte: Kanzler Werner Faymann (Sozialdemokrat, kleines Land, nach Merkel längstdienender Regierungschef in der EU), kann übergreifend mit allen Beteiligten gut, hat einen guten Draht zu Hollande, zu Juncker, zu EU-Parlamentspräsident Martin Schulz, speziell in der Flüchtlingspolitik auch zu Merkel. Wien ist als Gastgeberstadt der Syrien-Gespräche thematisch stark im Spiel. Schon in zwei Wochen soll es vor dem nächsten EU-Gipfel eine erste Evaluierung der Flüchtlingsvereinbarungen geben – möglicherweise sogar auf österreichischem Boden. (Analyse: Thomas Mayer aus Brüssel, 30.11.2015)