"Auf Knien" werden ein deutscher Kanzler und der französische Präsident noch "nach Ankara robben", um die Türken um ihre Freundschaft anzuflehen, so hatte Günther Oettinger, der frühere EU-Energiekommissar und derzeitige Kommissar für Digitalwirtschaft, vor zwei Jahren vorausgesagt. Oettinger dachte strategisch und an das nächste Jahrzehnt.

Die Flüchtlingskrise ließ die Knierutscherei sehr viel schneller Wirklichkeit werden. Angela Merkel hat Ende Oktober schon ihren Gang in die Türkei hinter sich gebracht und nichts mehr daran gefunden, dem autokratisch regierenden Staatschef Tayyip Erdogan kurz vor den Wahlen indirekt Stimmhilfe für dessen Partei zu leisten. Der Paukenschlag folgt heute nachmittag beim EU-Türkei-Gipfel in Brüssel: Die Europäer werden alles tun, um sich von Ankara die Eindämmung des Flüchtlingsstroms zu erkaufen. Der "Aktionsplan" ist schon aufgesetzt. Zahlen und Hofieren, heißt jetzt das Prinzip beim Umgang mit der Türkei, nicht Bürgerrechte und demokratische Gewaltenteilung – der Kern der Beitrittskriterien für die Mitgliedschaft in der EU.

Die Fehler der Türkei-Blockierer

Bleibt den Europäern etwas Anderes übrig? Durchaus. Sie könnten besser ganz schnell aus den Fehlern von zehn Jahren Hinhaltetaktik bei den Beitrittsverhandlungen mit Ankara lernen. Brüssel und vor allem das Türkei-Blockiererquartett Österreich, Deutschland, Frankreich und die Niederlande haben die liberalen, westlich orientierten Türken fallen gelassen. Die Türkeiblockierer tragen ihren Teil der Verantwortung für die immer nur zunehmenden Repressionen durch Erdogans konservativ-islamische AKP. Die war einmal als Pro-Reform-Partei angetreten und hatte die türkische Gesellschaft demokratisiert, bis ihr die Lust am ewigen Vorzimmerdasein in Brüssel verging. Was Erdogan heute tatsächlich in der EU will, ist nicht so leicht zu beantworten. Souveränität teilen sicherlich nicht. Die Europäer haben die Türken auch lang allein gelassen mit den syrischen Flüchtlingen. Diese politische Ignoranz rächt sich seit dem Sommer dieses Jahres. Um eine verbindliche Erklärung zur Aufnahme syrischer Flüchtlinge kommen die EU-Staaten nun nicht mehr herum.

Chaotische Verhältnisse

Lässt sich derzeit aber noch ein seriöser Handel mit Ankara treffen? Die Türkei ist in einem chaotischen Zustand. Falls es noch einen Beleg dafür braucht, so hat ihn die Erschießung von Tahir Elci, eines bekannten Bürgerrechtlers und Anwaltskammerpräsidenten in Diyarbakir, am Samstag geliefert. Gegen Elci hatte der Staat zuvor schon ein Verfahren eingeleitet. Den Chefredakteur und den Ankara-Bürochef der wichtigsten Oppositionszeitung des Landes nahm die Polizei am Freitag fest. Erdogan persönlich hatte geklagt. Zwei missliebige Konzerneigentümer sind in den vergangenen vier Wochen enteignet worden. Die Gleichschaltung von Justiz, Medien und Wirtschaft in der Türkei geht nun mit großem Tempo voran. Sie soll dem Staatspräsidenten und seinem Zirkel noch mehr Macht sichern. Dabei gibt die Verfassung eigentlich dem Regierungschef die bestimmende Rolle. Darum reist heute auch Ahmet Davutoglu nach Brüssel. Doch in der Realität ist die Verfassung schon ausgehebelt. Alles läuft auf Tayyip Erdogan zu. Er hat die neue Regierung zusammengestellt, Davutoglu ist seine Puppe. Ein Abkommen mit der EU zur Rücknahme illegaler Migranten, komplett mit Auftrag zur Reorganisation des Grenzschutzes, hat die Türkei schon im Sommer 2014 ratifiziert. Nur angewandt worden ist das Abkommen bisher nicht. (Markus Bernath, 29.11.2015)