STANDARD: Hätten Sie vor zehn Jahren gedacht, dass Sie heute feiern?

Jungwirth: Am Anfang gaben uns viele Leute ein paar Monate, höchstens ein, zwei Jahre. Wir sind ja in das österreichische Privatfernsehgesetz reingeplumpst und waren im gleichen Rahmenwerk wie ATV. Dann ging es darum zu schauen, wie viele Leute kriegen wir wirklich zusammen, die in Wien freiwillig und auf Lebenszeit in ein aufwendiges Hobby investieren und das Programm gestalten. Das hat glücklicherweise funktioniert.

STANDARD: Die Erfahrungswerte mit Privatsendern waren gering. Wie haben Sie sich zurechtgefunden?

Jungwirth: Wir nutzten die Gunst der späten Stunde. Weil Österreich europaweit das letzte Land war, in dem das Sendermonopol fiel, konnten wir schauen, wie es die anderen machen. Wir wollten ein Mischkonzept. Neben den Beiträgen der Community produzieren wir unsere eigenen Formate. Bestes Beispiel dafür ist "Oktoskop", sicher eine Erfolgsgeschichte bis heute, weil wir das ganze cineastische Publikum mit Filmen einfangen, die sich der ORF nicht zu spielen traut.

Christian Jungwirth ist seit 2005 Okto-Geschäftsführer.
Foto: Okto

STANDARD: Was waren die großen Meilensteine in den zehn Jahren seit Bestehen von Okto?

Jungwirth: Dass wir es recht früh geschafft haben, mit einer eigenen Mediathek online zu gehen. Das haben wir 2011 verwirklicht, und das war für einen kleinen nichtkommerziellen Sender wirklich ein Kraftakt. Zum Sendestart der erste österreichische Fernsehsender zu sein, der zu hundert Prozent digital operiert ohne auch nur einen einzigen analogen Zwischenschritt, komplett bandlos zu sein, war sicher ebenfalls ein großer Schritt. Und dass wir nach langen juristischen und politischen Anstrengungen die terrestrische Verbreitung für den Großraum Wien über den Kahlenberg bekommen haben, denn da wurde ziemlich gemauert. Dass auch in der terrestrischen Verbreitung nichtkommerzielle Inhalte Platz haben müssen, das mussten wir einzelnen Senaten in der Kommaustria erst begreiflich machen. Für uns war es eine emotionale Sache: Das ist jetzt richtiges Fernsehen, wir kommen jetzt auch durch die Luft. Darauf waren wir ziemlich stolz.

STANDARD: Sie haben einmal gesagt, Okto ist der einzige öffentlich-rechtliche Sender. Noch immer?

Jungwirth: Ja, in dem Verständnis, dass wir so nahe wie kein anderer Sender an der Bevölkerung gebaut sind. Das Publikum wird bei uns in die Programmschöpfung eingebunden. Im ORF gilt das übrigens hinter vorgehaltener Hand als innovativer Zugang. Für uns hat sich seit dem Sendestart von ORF 3 viel in der Beziehung zum ORF verändert, weil wir um einige Kooperationen gebracht worden sind. Was ich mir nur dadurch erklären kann, dass wir doch als Konkurrenz wahrgenommen werden und deswegen eine Notwendigkeit erkannt wurde, gut funktionierende und dichte Kooperationen wie die wöchentliche Wien-Ausgabe von "Türkisch–Deutsch" einzustellen.

Da hat der gesamte deutschsprachige Raum zu uns geschaut. Wir haben mit der ORF Enterprise einen sehr freundschaftlichen Rechtsrahmen für die Lizenznutzung von Avantgarde- und Kunstfilmen aus dem österreichischen Filmschaffen gehabt. Dieser wurde vom ORF sistiert. Mit der Begründung, da müssten sie ja jeden dieser Filme zur Verfügung stellen. Ich glaube nur nicht, dass Puls 4 oder ATV großes Interesse hätten an Filmen, die ein sehr nischiges Publikumssegment ansprechen. Schade ist es für den österreichischen Film.

STANDARD: Wie definiert ein nichtkommerzieller Sender Erfolg?

Jungwirth: Unser Anspruch war von allem Anfang an, dass wir Publikum haben wollen. Nichts ist mehr vergebens, wenn man so viel Zeit und Ressourcen in etwas investiert, und dann schaut keiner zu. Den Produzenten geht es um die Botschaft. Ich glaube, wir gefallen den Leuten.

Das Team von Okto.
Foto: Okto

STANDARD: Ist es vermessen, nach Quoten zu fragen?

Jungwirth: Unser weitester Seherkreis liegt bei 200.000, also Menschen, die regelmäßig mindestens einmal im Monat zu Okto zurückkommen. Das zeigt, dass wir über ein angestammtes Zielpublikum verfügen. Laufkundschaft, die für werbefinanzierte Sender wichtig ist, spielt für uns keine relevante Rolle. Jetzt geht es darum, das Messinstrumentarium für Online zu schärfen. Der dritte Bereich ist die Attraktivität als internationaler Kooperationspartner. Dass wir mit unseren großen Partnersendern – in Hamburg mit Tide und Alex in Berlin – einen regen Programmaustausch haben und wo sehr viel Know-how-Austausch passiert.

STANDARD: Womit hätten Sie gar nicht gerechnet in zehn Jahren Bürgerfernsehen?

Jungwirth: Für mich war nicht absehbar, dass die Migranten als Community über eine so starke Anbindungen zu ihren Herkunftsländern verfügen und sich dadurch Partnerschaften ergeben, die mittlerweile bis in den südostasiatischen Raum reichen. Wir haben einen Austausch mit China, wo wir auf größtes Erstaunen stoßen, wie man Bevölkerung einbinden kann.

STANDARD: Wie hat sich die Qualität der Beiträge verändert?

Jungwirth: Wir wollen die Professionalisierung nicht um den Preis der Authentizität. Die Rezeptionstrends entwickeln sich mit Youtube sehr in die Richtung, die uns zugute kommt: Originalität, Schnelligkeit, Authentizität gehen vor Hochglanzproduktion. Natürlich stellen sich Optimierungsphänomene ein, wenn Leute über Jahre hindurch in der Produktion tätig sind. Wir haben einen Aus- und Weiterbildungsbetrieb, wo gut tausend Leute im Jahr durchwandern. Da versuchen wir in den Workshop-Angeboten nachzubessern, um genau diesen Herausforderungen gerecht zu werden. Die meisten sind ehrgeizig. Überwiegend wollen die Leute besser werden. Was ich gelernt habe: dass man den vermeintlichen Profis immer am meisten auf die Finger schauen muss.

STANDARD: Die Stadt Wien als Ihr Geldgeber weiß, dass es Okto geben muss?

Jungwirth: Es gibt derzeit keine Anzeichen, dass es nicht so wäre. Wobei sich die Politik im Gleichklang mit Orange 94.0 schon sehr schwer tun würde, uns infrage zu stellen. Da zurückzusteigen, nachdem die Modelle nachweislich funktionieren und von der Bevölkerung auch in Anspruch genommen werden, das wäre politisch schwierig.

Programmmacher bei Okto.
Foto: Okto

STANDARD: Für eine anders gefärbte Regierung vielleicht nicht.

Jungwirth: Die müsste sich zahlenmäßig erst einmal ausgehen. Ich habe als Geschäftsführer außerdem massiv danach getrachtet, dass wir einen Bundesfinanzierungsansatz in dieser Republik lukrieren, und glücklicherweise haben wir mit dem nichtkommerziellen Rundfunkförderfonds in der RTR ein zusätzliches Mittel, das mittlerweile rund ein Viertel bis ein Drittel unserer Gesamtfinanzierung einnimmt.

STANDARD: Was erwarten Sie für die nächsten zehn Jahre?

Jungwirth: Ich bin glücklich über die rasante Entwicklung des Fernsehens, vermisse aber bei den Nichtkommerziellen das Innovationsmanagement. Da gibt es sehr oft eine "Jetzt lehnen wir uns zurück"-Mentalität, ähnlich der öffentlich-rechtlichen. Ohne reges Engagement in den sozialen Netzwerken werden wir nicht überleben. Dort spielt die Musi, auf gut Wienerisch.

STANDARD: Ihr persönlicher Okto-Favorit?

Jungwirth: Weil ich über die Musik zu den nichtkommerziellen Medien gekommen bin, mag ich ganz besonders unsere 12 Minutes Live am Freitag, wo in erster Linie österreichische Bands die Möglichkeit haben, sich in einem zwölfminütigen Beitrag im Studio zu präsentieren. Mit der Kürze kommen wir dem neuen Nutzungsverhalten entgegen. Da steckt viel Innovationspotenzial, und das ist die Richtung, wo wir hinwollen. (Doris Priesching, 28.11.2015)