Bild nicht mehr verfügbar.

Die ständige Erreichbarkeit – auch am Strand im Urlaub – wird für viele Arbeitnehmer zu einer nicht mehr bewältigbaren Belastung

Foto: reuters

STANDARD: Seit Jahren steigt die Zahl psychisch bedingter Frühpensionierungen. Bei den unter 50-Jährigen, die vorübergehend arbeitsunfähig sind, sind es bereits 70 Prozent. Wie erklären Sie sich diese Zahlen?

Stippl: Die Arbeitsbedingungen, Stress, die Anforderung nach lebenslangem Lernen – all das überfordert viele. Diese Menschen sind nicht krank im Sinn von Schizophrenie, Suchterkrankung oder Borderline. Aber sie kommen mit dem Zeitdruck, dem ständigen E-Mail-Anschauen und der Erwartung, dauernd via Handy erreichbar sein zu müssen, nicht zurecht.

STANDARD: Das klassische Burnout.

Stippl: Wobei das klassische Burnout ja kein sehr spezifisches Symptom ist. Man müsste vielmehr von Überlastungsstörung sprechen. Wenn sich das chronifiziert, verlieren die Menschen die Regenerierungsfähigkeit. Wenn jemand schwer an Burnout erkrankt, dann ist das meist ein Krankenstand von mindestens sechs Monaten. Ab einem gewissen Alter fehlt auch oft die Motivation für grundlegende Änderungen. Wenn man in Richtung 50 geht, Schulden und die Erwartung nach einem gewissen Lebensstandard hat, aber das Gefühl, nicht mehr mitzukommen, kann das schnell kippen: Dann bricht das Kartenhaus zusammen.

STANDARD: Aber erklärt das wirklich diesen Anstieg: Vor 20 Jahren sind nur zehn Prozent aller neuen Pensionen auf psychische Erkrankungen zurückgegangen.

Stippl: Das ist jedenfalls das, was wir in der Praxis ganz vermehrt antreffen und wo es keine Antworten gibt. Es gibt keine gut bezahlten einfachen Jobs. Und bei den einfachen Jobs nimmt man auch keinen 50-Jährigen. Außerdem gibt es keine gescheiten Teilzeitmodelle, die einigermaßen Einkommensmöglichkeiten schaffen. An dieser Ausweglosigkeit gehen die Leute zugrunde.

STANDARD: Kann es nicht auch sein, dass manche psychischen Krankheiten nur behauptet werden? Sie sind ja sicher schwerer nachzuweisen als physische.

Stippl: Es gibt sicher Grenzfälle, wo es schwer ist zu sagen, wie viel ist Übertreibung, Hypochondrie und wie viel ist wirklich diagnostisch relevant. Aber eines möchte ich schon sagen: Bei psychischen Erkrankungen gibt es vonseiten der Sozialversicherung Ansprüche, die es bei keiner anderen Erkrankung gibt. In allen anderen Fällen ist die Reduktion der Häufigkeit der Erkrankung, die Reduktion der Spitalsaufenthalte, der Arztbesuche und der Medikation ein wichtiges Heilungsziel. Das wird bei einer psychischen Erkrankung nicht anerkannt. Da gibt es nur: alles oder nichts. Bei vielen Krankheiten ist man auch bereit, Patienten ein Leben lang zu begleiten. Bei psychischen Krankheiten gibt es 100 Stunden. Wenn man dann nicht funktioniert, kriegt man nichts mehr. Das ist ein brutales Denken, dass man diese Patientengruppe anders behandelt.

STANDARD: Man müsste also mehr differenzieren: Sagen: Du kannst vielleicht nicht Vollzeit arbeiten, aber einige Stunden.

Stippl: Richtig. Das ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Es ist auch nicht richtig, dass man ständig im Gehalt steigt und kurz vor der Pension die höchsten Bezüge hat. Das entspricht ja nicht der Leistungskurve. Wir müssen auf andere Modelle kommen, die es ermöglichen, dass die Menschen im Erwerbsprozess bleiben und diesen auch mit Lebensfreude erleben können.

STANDARD: Auffällig ist auch, dass es in einigen Bundesländern – etwa der Steiermark und Kärnten – wesentlich mehr dokumentierte psychische Erkrankungen gibt, die zu Arbeitsunfähigkeit führen. Lässt sich das rational erklären?

Stippl: Nein. Aber es gibt verschiedenste medizinische Maßnahmen, wo es unerklärliche Unterschiede gibt und wo das noch viel deutlicher ist: Bei der Bundesbahn kriegt jeder vierte Mitarbeiter einmal im Jahr eine Kur, bei den Metallschwerarbeitern jeder 1700ste.

STANDARD: Also liegt es am vorhandenen Behandlungsangebot?

Stippl: Ich deute aber an, wo ich vermute, dass der Hase im Pfeffer liegt: Die Beamtenversicherung zahlt für Psychotherapie einen Zuschuss von 40 Euro, alle anderen Krankenkassen zahlen 21,80 Euro. Wenn es also einer Krankenkasse finanziell besser geht, kann sie großzügiger sein. Wenn sie unter chronischem Geldmangel leidet, muss sie strenger mit den Leistungen sein. (Günther Oswald, 27.11.2015)

Zum Nachlesen:

Die Rückkehr aus der Invalidität gelingt fast nie