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Michael Hudson wurde als einer jener wenigen Ökonomen bekannt, die das Platzen der Immobilienblase in den USA vorausgesagt hatten.

Foto: Getty / Bloomberg / Andrew Burton

STANDARD: Sie haben das Platzen der Immobilienblase im Jahr 2008 vorausgesagt. Woher wussten Sie, dass es dazu kommen würde?

Hudson: Die privaten Schulden wuchsen viel schneller als die Möglichkeiten, diese zu begleichen. Das wussten Zehntausende, nur hat niemand öffentlich darüber gesprochen. Diejenigen, die davon wussten, waren Banker und haben von der Blase profitiert. Sie haben Haus-Kredite an Kunden ohne entsprechendes Einkommen vergeben (Ninja-Kredite: no income, no job, no assets), diese an Pensionsfonds und deutsche Banken weitergegeben und gleichzeitig darauf spekuliert, dass die Kredite niemals zurückgezahlt würden.

STANDARD: Warum haben deutsche Banken die Forderungen gekauft, wenn so viele Brancheninsider wussten, dass sie faul waren?

Hudson: Sie waren zu gutgläubig. Man konnte sich nicht vorstellen, dass US-Banken betrügen würden. Die Bush-Regierung hat Warnungen des FBI, dass sich der größte Finanzbetrug der US-Geschichte abspielen könnte, ignoriert. Fed-Chef Alan Greenspan hat die Bankenbranche dereguliert. Konsens war: Laut der Theorie der freien Märkte, für die Nobelpreise vergeben werden, dürften Banken nicht betrügen, weil das schlecht fürs Geschäft ist. Das Gegenteil war der Fall: Betrug hat sich als sehr gutes Geschäft herausgestellt.

STANDARD: Wie kann es gut fürs Geschäft sein, eine Blase zu erzeugen, die unweigerlich platzen muss? Den Zeitpunkt, ab dem die Preise fallen, kann man ja nicht voraussagen.

Hudson: Finanzmanager denken nur kurzfristig. Gewinne müssen jetzt her. Solange die Preise gestiegen sind, hat man spekuliert. Man hat nicht bedacht, dass die Preise nach dem Platzen der Blase viel schneller fallen, als sie gestiegen sind.

STANDARD: Seither hat die Krise viele Gesichter gezeigt: als Bankenkrise, Schuldenkrise, Konjunkturkrise, mancherorts als politische Krise. In welcher Phase der Krise befinden wir uns derzeit?

Hudson: In der des Schuldenabbaus. Die Banken wurden gerettet, nicht die reale Ökonomie. Die Schulden stehen in den Büchern und müssen beglichen werden. Einkommen werden nicht in Güter und Dienstleistungen gesteckt, sondern in den Abbau von Altlasten. Anstatt neue Kredite zu vergeben, treiben Banken alte Forderungen ein.

STANDARD: Welche Folgen hat das für die Wirtschaft?

Hudson: Märkte schrumpfen, Investitionen gehen zurück, es entstehen keine neuen Jobs. Das geht immer so weiter, solange die Forderungen in den Büchern der Banken und der reichsten ein Prozent bestehen bleiben. Daher kommt die Ironie, dass der kapitalistische Westen vom sozialistischen China abhängig ist. Wir brauchen ausländische Märkte, weil wir unsere eigenen zerstören.

STANDARD: Können die Notenbanken in den USA und Europa da nicht gegensteuern? Die Zinsen sind seit langem so niedrig wie noch nie, beide haben massiv Anleihen gekauft.

Hudson: Zentralbanken sind stark von Geschäftsbankenlobbys beeinflusst und vertreten deren Interessen – nicht die der Bevölkerung. Sie erzeugen kein Geld für Investitionen und Lohnzahlungen. Das Geld wird Geschäftsbanken gegeben und diese verleihen nur gegen Sicherheiten wie Anleihen, Aktien oder andere Finanzprodukte. Die Preise von Finanzprodukten steigen durch die Zentralbankpolitik, nicht aber Löhne und Investitionen. Mittlerweile werden jeden Tag am Finanzplatz New York Transaktionen im Wert des jährlichen US-Inlandsprodukts durchgeführt.

STANDARD: Aber im EZB-Rat sind die Euroländer repräsentiert. Insofern ist die EZB nicht ganz unabhängig von der europäischen Politik und sollte nicht nur die Finanzmärkte im Auge haben.

Hudson: Abhängig von extremer Rechtsaußenpolitik. Die Politik war es ja, die Banken gerettet und Schulden öffentlich gemacht hat. Auch die Sozialdemokratie, die in Europa – mit wenigen Ausnahmen – immer weiter nach rechts driftet. Die Fed kann der Politik über gewisse Kanäle ein Budgetdefizit ermöglichen. Deshalb war der Wirtschaftsabschwung in den USA schwächer als in Europa. Die EZB hat die Eurozone in die Austerität gezwungen, mit dem Ziel, das Lohnniveau um 20 Prozent zu senken. Das ist Klassenkampf.

STANDARD: Was haben Banken davon, Löhne in der Realwirtschaft zu drücken?

Hudson: Sie glauben, dass mehr Gelder für die Begleichung von Schulden frei werden, wenn Arbeiter so wenig verdienen, dass sie ihre eigenen Produkte nicht bezahlen können. Dabei wird übersehen, dass Austerität und sinkender Lebensstandard die Wirtschaft insgesamt schwächen und die Wirtschaftsleistung weiter zurückgeht.

STANDARD: Aber nehmen wir Griechenland: Da hat man doch gesehen, welche negativen Folgen illiquide oder insolvente Banken für den Staat und die Wirtschaft haben.

Hudson: Sehr begrüßenswerte Folgen! Bankenpleiten sind notwendig. All diese Banken hatten noch genug Gelder, um gesicherte Einlagen auszuzahlen. Man hätte die Banken in Irland, USA und Griechenland pleitegehen lassen und nicht gesicherte Forderungen abschreiben sollen. Dann hätten Spekulanten und Oligarchen die Kosten getragen. Das wäre gut für die Wirtschaft gewesen, da wieder Geld für Investitionen frei geworden wäre. In Griechenland wäre das auch politisch gut gewesen, weil den Oligarchen ein Teil ihrer Machtbasis entzogen worden wäre. Angesichts des Oligarchen-Vermögens im Ausland bräuchte es eine europäische Schuldenkonferenz.

STANDARD: Es spricht wenig dafür, dass es diese Konferenz geben wird. Wie lange wird die Wirtschaft unter dem konstanten Schuldenabbau leiden?

Hudson: Europa wird langsam, aber sicher zugrunde gehen, wenn sich die Politik nicht radikal ändert oder eine Revolution kommt. Die "dark ages" haben 600 Jahre gedauert. Das könnte hinkommen.

STANDARD: Wie würden Europäer den langsamen "crash" wahrnehmen?

Hudson: Lettland ist dafür ein gutes Beispiel: Die Einkommen werden sinken, die Menschen ärmer und die Jobchancen schlechter. Arbeitskräfte werden emigrieren und die Bevölkerung zurückgehen. Wohin die Menschen emigrieren werden, kann ich nicht sagen – es ist in Europa überall dasselbe mit der Austerität. Ich sehe keine andere Möglichkeit als eine große Schuldenkonferenz und einen Neuanfang ohne Schulden. Europa ist heute ähnlich verschuldet wie Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg. Nur stehen auf der Gläubigerseite keine Siegermächte, sondern eine superreiche Offshore-Elite der reichsten ein Prozent.

STANDARD: Und das Wirtschaftssystem nach dem Neuanfang bliebe dasselbe?

Hudson: Man muss den Neoliberalismus durch Sozialismus ersetzen. Europa braucht eine echte Zentralbank, die Staaten finanzieren kann, eine radikale Umstrukturierung der Schulden, die Abschaffung der Steuerfreiheit von Zinserträgen, echte progressive Besteuerung und einen Bruch mit der Dominanz des US-Kapitalismus. (Aloysius Widmann, Portfolio, 2.12.2015)