Die südkoreanische Insel Jeju ist vulkanischen Ursprungs. Niedrige Tafelberge wie der Seongsan Ilchulbong sind typisch für das subtropische Eiland, 100 Kilometer südlich des Festlands.

Im schwarzen Taucheranzug steht Ho Seon-oh an der Felsklippe und blickt zufrieden auf die Brandung in der Ferne. An ihrem Lächeln sieht man, wie der Inselwind und die Sonne tiefe Furchen in ihr Gesicht gegraben haben. Jeden zweiten Morgen steigt die 62-Jährige in die dunklen Wellen hinab, schwimmt einen halben Kilometer ins Meer hinaus, wo sie dann – ohne Sauerstoffflasche – auf dem zehn Meter tiefen Grund Seeohren und Meeresschnecken von den Felsen kratzt. Erst am Nachmittag wird sie wieder festen Boden betreten, sich mit heißem Wasser abduschen und gemeinsam mit den anderen Frauen über den Fang freuen.

Der höchste Berg des Landes, der 2.000 Meter hohe Hallasan, thront auf der Inselmitte, auf seinem Gipfel ein majestätischer Kratersee.
Foto: Fabian Kretschmer

Seit mehr als vier Jahrzehnten führt Ho Seon-oh das beschwerliche Leben einer Haenyeo, wie die "Seefrauen" der Insel Jeju auf Koreanisch heißen. "Auch mit 80 werde ich bestimmt noch tauchen können", sagt sie, und wer die Zuversicht in ihren dunklen Augen sieht, hegt keinen Zweifel an diesen Worten.

Makelloses Blau

Für die Festlandkoreaner gilt Jeju, rund 100 Kilometer südlich der Halbinsel, als paradiesischer Ort. Der höchste Berg des Landes, der 2.000 Meter hohe Hallasan, thront auf der Inselmitte, auf seinem Gipfel ein majestätischer Kratersee. Strahlend weiße Sandstrände lassen sich hier finden, saftig grünes Hügelland, und bis in den späten Herbst trägt der Himmel ein makelloses Blau wie aus dem Kindermalkasten. Die Temperaturen sind milder als auf dem Festland, auch während der sonst so schwülen koreanischen Sommer. Doch die Haenyeos scheinen davon wenig zu haben.

Haenyeo, wie die "Seefrauen" der Insel Jeju auf Koreanisch heißen.
Foto: Fabian Kretschmer

In alten Balladen heißt es über die "Seefrauen": Sie schwimmen mit Grabsteinen auf ihrem Kopf und quälen sich in der Unterwelt, um ihren Familien das Leben in dieser Welt zu ermöglichen. Als letzte Vertreterinnen dieses Berufsstandes zeugen sie auch von einem allmählich aussterbenden Matriarchat. Während im streng konfuzianischen Staat Frauen nur eine untergeordnete Rolle im öffentlichen Leben spielten, gaben sie auf Jeju stets den Ton an. Hier mussten Männer eine Mitgift an ihre künftigen Bräute zahlen, aufgrund deren wirtschaftlicher Unabhängigkeit es mehr Scheidungen als anderswo in Südkorea gibt.

Flucht aufs Festland

Viele ihrer Männer ließen das beschwerliche Inselleben in den vergangenen Jahrhunderten hinter sich. In der Hoffnung auf eine bessere Zukunft flüchteten sie aufs Festland. Andere wiederum verloren ihr Leben bei einer der zahlreichen Invasionen. So kamen bereits während der ersten Volkszählung von 1873 in Jeju auf 100 Frauen gerade mal 83 Männer.

Europäische Touristen sieht man kaum, dafür viele Chinesen: Rund die Hälfte der sechs Millionen chinesischen Touristen in Südkorea machen auch auf Jeju halt.
Foto: Fabian Kretschmer

In ebenjener Abwesenheit der Männer wurzelt offensichtlich auch ein ganz spezieller erotischer Charme, den die Insel verströmt. Alle paar Kilometer stehen verstreut zwischen Palmen und Mandarinenhainen steinerne Jeju-Männchen, deren phallische Form selbst die züchtigsten Reiseleiter kaum leugnen können. Eine Legende besagt, die steinernen Gottheiten würden die Fruchtbarkeit erhöhen. Und schwangere Inselbewohnerinnen müssten die Steinmännchen lediglich an der richtigen Stelle streicheln – entweder an den breiten Nasen oder den wulstigen Ohren –, um über das Geschlecht ihrer Kinder zu entscheiden.

Unzählige südkoreanische Pärchen haben auf Jeju erstmals ihre Sexualität erkundet, denn seit den 1950er-Jahren gilt die Insel als Wunschziel für die Flitterwochen. Und vorehelicher Sex war in der konservativen Gesellschaft Süd koreas bis vor kurzem noch tabu. Dennoch oder gerade deshalb gibt es auf der Insel eine äußerst anstößige Touristenattraktion: das Jeju Loveland, 2012 von 20 Seouler Kunststudenten entworfen.

Die Taucherinnen bringen ihren Fang an Land.
Foto: Fabian Kretschmer

Ineinander verschlungene Skulpturen spielen alle Facetten des Kamasutra durch, die Wegschilder sind in Penisform gehalten, aber auch herkömmliche Aufklärungsvideos werden gezeigt. Skurril ist dieser erotische Themenpark allemal, und doch lassen sich selbst hier Spuren der feministischen Inseltradition finden: Eine beleibte und betagte Frauenstatue räkelt sich lasziv am Boden und hält mit ihren Zehen die Unterhose eines Jünglings fest, der übereilt die Flucht ergreifen will. Wer nachfragt, erfährt von Riten, mit denen die Inselfrauen Männer einst zum Sex "motiviert" haben sollen.

Muskatnusswald

Viele Guides auf der Insel würden Loveland lieber auslassen, und tatsächlich haben sie dutzende gute Gründe dafür. Man könnte ja den Bijarim-Wald verpassen, die weltweit größte Ansammlung von Muskatnussbäumen. Bis zu 800 Jahre sind diese verschlungenen Gewächse alt. Oder die Manjanggul-Lavahöhle im Berg Halla, die einen surrealen Eindruck hinterlässt. Sie sieht aus, als hätte sich ein betrunkener Tiefbau-Ingenieur in Schlangenlinien durch den Boden gebohrt.

Foto: Fabian Kretschmer

Erstaunlich ist auch, dass man die subtropische Inselküste tagelang abfahren, dabei in traditionellen Restaurants gegrillten Fisch und Seeigel kosten kann, und trotzdem keinem einzigen Europäer begegnet. Dafür haben in den letzten fünf Jahren andere die Insel für sich entdeckt: Rund die Hälfte der sechs Millionen chinesischen Touristen in Südkorea machen auch auf Jeju halt.

Bereits jetzt hat der Tourismus die Insel nachhaltig verändert, und nirgendwo ist das eindrücklicher zu sehen als in den verbliebenen Fischerdörfern der Haenyeos. Die jüngste der 4.000 noch aktiven Seefrauen ist in ihren Dreißigern, die meisten sind aber schon über 70. Deren Kinder haben längst Arbeit in den Hotels oder Restaurants der Insel gefunden. Verstehen könne sie es ja, warum die nächste Generation so ein Leben wählt, sagt Seefrau Ho Seon-oh. Außerdem müsse sie nicht lange überlegen, was das Beste an jeder Arbeit sei: "Als Frau das Geld für die Familie heranzuschaffen – das ist unbezahlbar". (Fabian Kretschmer, Rondo, 27.11.2015)