Irmgard Griss vor liberalem bürgerlichem Publikum ist ein klarer Erfolg – mit vereinzelten skeptischen Gesichtern Montagabend war sie zu einer Art Hearing im Wiener Lokal der Neos geladen.

Es war der Auftritt einer selbstbewussten, artikulierten, zierlichen älteren Dame, deren größtes Asset ist: Sie ist keine Politikerin. Sie vermittelt gekonnt den Eindruck, Klartext zu reden, nicht im üblichen Politikerquacksprech zu versinken. Sie nimmt ein weltoffenes Publikum von überwiegend Besserverdienern mit ihrem begeisterten Bekenntnis zu Auslandserfahrungen und zu Europa ein.

Sie schätzt die verfassungsrechtliche und die realpolitische Position des österreichischen Bundespräsidenten realistisch ein. Die nahezu einzige Waffe des Bundespräsidenten sei die "Macht des Wortes", und die würde sie verstärkt einsetzen. Denn allein dadurch, dass man "Probleme klar benennt", sei in der heutigen Politpraxis der Herumrederei, der Verdrängung und Verschleierung schon viel gewonnen.

All das kann man unterschreiben. Man kann es aber auch hinterfragen, und das haben an diesem Abend auch einige kritische Neos-Sympathisanten getan. Dann aber lässt Irmgard Griss doch einiges von der Klarheit des Wortes vermissen.

Würde sie sich für politisches Asyl für den Aufdecker Edward Snowden einsetzen? Dreimal gibt sie Antworten auf Fragen, die so nicht gestellt wurden (der Bundespräsident kann kein Asyl gewähren etc.), beim dritten Mal dann, fast widerwillig, eine Annäherung an eine Festlegung: Ja, der Bundespräsident könne eine Meinung äußern, wenn Gefahr bestehe, dass die Asylgrundsätze verletzt würden (theoretisch auch im Fall Snowden).

Irmgard Griss weicht gern ins Grundsätzliche bis Ungefähre aus. Versuche, sie irgendwie auf einer politischen Skala zu verorten, mag sie gar nicht – im ZiB 2-Interview bei Armin Wolf schien sie den Versuch sogar als Impertinenz zu empfinden. Politische Verhetzung gehe zwar nicht, aber "Ausgrenzung" sei auch nicht in Ordnung. Sie nehme von keiner Partei Geld, aber von jeder, ausdrücklich auch der FPÖ, verbale Unterstützung.

Eindeutigkeit zeigte sie nur einmal: Wenn sie vor der Entscheidung stünde, einen ungeeigneten Politiker anzugeloben, würde sie eher zurücktreten. Ob Heinz-Christian Strache so jemand sein könnte, ist schon wieder nicht so klar. Man solle solche Situationen "nicht herbeizittern".

Die ehemalige Präsidentin des Obersten Gerichtshofes erfüllt ein tiefes Bedürfnis nicht nur bürgerlicher Menschen: dass da jemand endlich außerhalb der üblichen Politikerblase ein hohes Amt bekommt. Dazu kommt, dass die anderen denkbaren Kandidaten zum Teil wenig Begeisterung erregen. Skeptischere Naturen hören bei Griss noch anderes heraus: eine ganz leise Politikerverachtung. Experten (wie sie) könnten vieles doch besser. Doch die Bundespräsidentschaft ist ein politisches Amt und verlangt politisches Denken.

Aber es ist ja erst der Anfang eines Prozesses, um herauszufinden, wer die Kandidatin Irmgard Griss wirklich ist. (Hans Rauscher, 24.11.2015)