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Nach den Anschlägen von Paris reagiert Frankreich mit der Ausweitung der Bombardements auf den "Islamischen Staat".

Foto: EPA / IAN LANGSDON

Erstmals in der Geschichte der Europäischen Union hat Frankreich den militärischen Bündnisfall nach Artikel 42 Absatz 7 des Lissabonner Vertrages erklärt und angesichts der eigenen Überforderung eine breite Unterstützung seitens der Partnerstaaten gefordert – und erhalten. Jenseits dieses zunächst symbolischen Beistandes stellt sich die Frage, was Europa tun kann – und was es lieber nicht tun sollte.

So verständlich wie voraussehbar die Ausweitung der französischen Bombardements (und aufgrund internationaler Solidarität die Luftangriffe anderer Mächte) auf den "Islamischen Staat" (IS) als Reaktion auf die Attentate von Paris auch sein mögen, so spielen diese doch vor allem den Islamisten in die Hände.

Wertebasierte, nachhaltige Sicherheitspolitik

Europa und der Westen insgesamt müssen sich auf eine wertebasierte, nachhaltige und umfassende Sicherheitspolitik für den Mittleren Osten und den Arabischen Raum besinnen, welche das Recht auf Selbstbestimmung und Demokratie sowie die wirtschaftlichen Lebensgrundlagen der Bevölkerungen ins Zentrum der Bemühungen rückt. Aufmerksamkeit, Energie und Mittel sollten daher nicht ausschließlich für den Kampf gegen den Terror oder die Lösung der aktuellen Flüchtlingskrise verwendet werden, sondern für substanzielle Entwicklungsfragen.

Dass man nun gerade auf den russischen Präsidenten Putin als wichtigen Verbündeten angewiesen scheint und dadurch seinem polternden Auftritt auf der internationalen Bühne Legitimität verleiht, ist wahrlich auch kein Ruhmesblatt. Der Abschuss eines russischen Kampfflugzeuges durch die türkischen Luftstreitkräfte, der zu einer dramatischen Zuspitzung der Lage beiträgt, zeigt einerseits, wie explosiv und unübersichtlich der Syrien-Krieg durch die vielen Parteien geworden ist. Andererseits sieht es ganz danach aus, als ob die Eskalationsstrategie der Islamisten vollumfänglich aufgeht.

Gefährlicher Irrtum

Westliche Regierungen sitzen einem gefährlichen Irrtum auf, wenn sie glauben, die IS-Jihadisten durch eine Intensivierung der Bombenkampagne von weiteren Terroranschlägen abhalten zu können. Umgekehrt täuschen sich auch die Extremisten, wenn sie meinen, den Westen mit blutigen Attacken auf Zivilisten zum Aufgeben der Interventionen in Nahost bringen zu können. Darüber hinaus ist klar, dass wir im Angesicht von Perfidie und Feigheit solcher Anschläge Einigkeit, Entschlossenheit und Stärke signalisieren wollen und müssen – alles andere wäre fatal.

Das Weiterdrehen der Gewaltspirale jedoch nützt den islamistischen Terroristen und fügt sich nahtlos in die Logik ihres Nullsummenspiels, immer neue Akteure in einen blutigen Konflikt zu verstricken, der, einigen Verblendeten zufolge, in einem Armageddon mit dem Untergang der Welt enden soll. Der Westen kann dabei jedenfalls nur verlieren, denn eine Beendigung des Syrien-Krieges – und damit eine Lösung des akuten Flüchtlingsproblems – ist nur auf dem Verhandlungsweg zu erzielen. Nach der letzten Runde der internationalen Gespräche in Wien durfte man vorsichtig optimistisch sein, dass es in absehbarer Zukunft vielleicht zu einem Machtwechsel in Damaskus kommen könnte. Dieser Hoffnungsschimmer ist nun wohl am Verblassen.

Europäische Globalstrategie – für einen Abwehrkampf?

Dringender denn je benötigen wir eine europäische Strategie, die nicht nur auf eine kurzfristige und defensive, sondern auf eine umfassende und nachhaltige Sicherheitspolitik setzt, die also auch Aspekte der langfristigen regionalen Entwicklung als Vorausbedingung für Stabilität, soziale Gerechtigkeit und Demokratie anerkennt.

Der von der EU-Außenbeauftragten Federica Mogherini im Juni angestoßene Strategieprozess droht angesichts einer von Angst, Ressentiment und engen Sicherheitsbedenken getriebenen Debatte zu einer rein reaktiven Abwehr- und Abgrenzungsscholastik zu verkümmern. Am 18. November stellte die EU-Kommission auch das Weißbuch zur Reform der Europäischen Nachbarschaftspolitik vor. Es ist zu befürchten, dass das, was als "pragmatischerer Zugang" angepriesen wird, letztlich den Misserfolgen der Vergangenheit hauptsächlich mit einer Reduktion der Ambitionen und Ziele begegnet.

Viel Platz und große Aufwendungen werden dagegen dem Eindämmen und dem Zurückdrängen der Wanderungsströme zugebilligt. Schon nach dem Gipfel von Valletta mussten sich die EU-Staats- und -Regierungschefs den Vorwurf gefallen lassen, die Türkei für die Aufnahme von Flüchtlingen mit drei Milliarden Euro zu "bestechen", während für den neuen Afrika-Fonds zur strukturellen Armuts- und Fluchtursachenbekämpfung gerade mal 1,9 Milliarden übrig waren.

Goldene Chance für Rüstungsindustrie

Im Bereich der europäischen Globalpolitik droht eine Beschränkung auf die verteidigungspolitischen Instrumente, die verknüpft mit verstärkter Überwachung durch Geheimdienste, Polizeiapparate, Justiz- und Grenzschutzbehörden oder Fluggastdatenaustausch ein Trugbild der Sicherheit erzeugen sollen, wo sie doch zunächst auch eine nicht unerhebliche Gefahr für die Freiheitsrechte der Bürger darstellen.

Die Rüstungsindustrie hat auf diese goldene Chance sicherlich gewartet: Nachdem zuerst mit Waffenlieferungen an die Konfliktparteien gut verdient wurde, wird jetzt womöglich auch noch die Dividende (oder der Jackpot) in Form verstärkter innereuropäischer Beschaffungsmaßnahmen und aufgestockter Verteidigungsbudgets fällig. Unter den Waffenexporten leidet klarerweise unsere Glaubwürdigkeit, denn europäische Werte werden anderswo schwer vermittelbar, wenn wir sie selbst nicht ernst nehmen und wir den Extremisten mit einer solchen Doppelmoral zusätzlich noch Argumentationshilfe leisten.

Was der IS dagegen am meisten fürchtet, sind nach Aussagen mehrerer Insider die Szenen, in denen abertausende Flüchtlinge von Europäern willkommen geheißen wurden. Letztendlich stellt daher die Verengung unseres Horizonts auf Bewachung und Bestrafung eine doppelte Niederlage dar, gegenüber den äußeren wie den inneren Feinden der europäischen Idee, wobei der Nutzen im Kampf gegen den Terrorismus zweifelhaft ist.

"Und" – nicht "oder": Sicherheit und Recht und Freiheit

Wenn wir zulassen, dass Furcht und Festungsmentalität unser politisches Handeln bestimmen, haben die Islamisten mehr als nur eine Schlacht gewonnen und sich unbefugten Zutritt zu Europas Innerstem verschafft, seinen Werten und seinem Selbstverständnis. Dies wäre ähnlich katastrophal – und gleichermaßen inakzeptabel – wie wenn wir es Rechtsradikalen zugeständen, zentrale gesellschaftspolitische Entscheidungen, etwa in der Asylfrage, für uns zu treffen.

Dieser Umstand ist im Übrigen der einzige, den das Flüchtlings- und das Terrorthema gemeinsam haben, nämlich dass es in beiden Fällen unverantwortlich ist, das Feld vor den Hasspredigern und Scharfmachern mit ihren gefährlichen Simplifikationen zu räumen. Jede andere Art der Vermengung der Diskussionen muss als fahrlässig gelten – wenn nicht gar als bösartig.

Fazit ist daher: Ohne profunde Analyse und das Bestreben auf die eigentlichen, tiefer- und dahinterliegenden Probleme wie das Verzagen an Armut, Ungleichheit und Unterdrückung einzugehen, sprich: eine holistische Sichtweise auf Frieden zu entwickeln, die Sicherheit und Entwicklung zu gleichen Teilen berücksichtigt, werden wir Europa, so wie wir es uns wünschen, in einer immer engmaschiger vernetzen Welt nicht nachhaltig beschützen und bewahren können. (Thomas Henökl, 25.11.2015)