Ramez Naam: "Crux"
Broschiert, 750 Seiten, € 10,30, Heyne 2015 (Original: "Crux", 2013)
Auf halbem Weg zwischen heute und Cyberpunk, Endstation Singularität, bitte alle einloggen. In "Nexus", dem ersten Band seiner gleichnamigen Trilogie, hatte uns Computerspezialist und Futurologe Ramez Naam, ein in Ägypten geborener US-Amerikaner, in eine nahe Zukunft (2040) versetzt, die unserer Gegenwart noch stark ähnelt, aber an der Schwelle zu etwas völlig Neuem steht.
Epizentrum der Neuerung sind die innovationsfreundlichen Staaten Asiens, die daher auch den Großteil der Schauplätze des Romans ausmachen. Europa wird nur am Rande als rückwärtsgewandt und sklerotisch erwähnt, aber nicht besucht. In den USA hingegen halten wir uns recht oft auf. Die sträuben sich zwar ebenso gegen die Zukunft, allerdings tun sie es – wie es nun mal ihre Art ist – mit Zähnen und Klauen, was für den Plot einen schönen Konflikt ergibt.
Nächste Stufe der Evolution
Informations-, bio-, mikro- und nanotechnologische Neuentwicklungen hat es zwischen heute und der Romanzeit reichlich gegeben. Sie fügen sich zum durchaus gruseligen Bild einer Welt zusammen, in der diejenigen das Nachsehen haben, die nicht bereit oder in der Lage sind, auf dem aktuellen Stand zu bleiben. Die endgültige Eskalation löst aber Nexus aus, eine flapsig als "Nanodroge" bezeichnete Lösung aus winzigen Teilchen, die in den Körper injiziert werden und sich dort zu einem neuartigen Interface zusammensetzen. Dieses ermöglicht nicht zuletzt eine direkte, quasi-telepathische Verbindung zwischen verschiedenen Bewusstseinen. Und zwar beliebig vielen. Ein neuer Schritt in der menschlichen Evolution zeichnet sich damit ab.
Kaden Lane, der Erfinder der jüngsten Nexus-Version, die zum entscheidenden Durchbruch führte, hat dieser Entwicklung bewusst Vorschub geleistet. Er betrachtet die künstliche Geistesverschmelzung als folgerichtige Fortsetzung der menschlichen Evolution – schließlich sei die eigentliche evolutionäre Stärke des Menschen immer dessen Fähigkeit zur Kooperation gewesen. Diese wird nun einfach auf ein neues Level gehoben. Seit Kaden am Ende des ersten Teils die Nexus-Codes jedermann weltweit zugänglich gemacht hat, sind ein paar Monate vergangen. Es gibt bereits einige Millionen Nexus-NutzerInnen, Tendenz stark steigend. Das hat natürlich Folgen – und die handelt Naam nun mit einem Personal wie zwei Staffeln "Game of Thrones" ab.
Alte Bekannte ...
Kaden ist mittlerweile der meistgesuchte Mensch des Planeten. Nicht nur diverse US-Geheimdienste (die auch noch untereinander konkurrieren) sind hinter ihm her, sondern auch alle möglichen anderen Interessengruppen. Kaden versteckt sich vor ihnen in Südostasien, wo ihn ein hilfreiches buddhistisches Netzwerk von einem Kloster zum nächsten weiterreicht ... allerdings kommen die Häscher immer näher. Ebenfalls in der Region hält sich Samantha Cataranes auf, die Ex-US-Agentin, die am Ende von Band 1 die Seiten wechselte, weil sie die positiven Aspekte von Nexus erkannte. Sie trägt die Droge nun selbst im Blut – und wird am Ende dieses Bands noch einmal vor eine schwere Entscheidung gestellt werden.
Den Agenten Kevin Nakamura kennen wir ebenfalls bereits; er gehört zu den vielen, die sich auf Kadens Spur gesetzt haben. Und dann wäre da noch die geniale chinesische Wissenschafterin Su-Yong Shu. Die hat längst die Trägersubstanz gewechselt, wie sie es nennt, und ist als erster Mensch erfolgreich in eine digitale Existenz überführt worden. Anders als Kaden war sie stets vollkommen skrupellos, was die Förderung des Posthumanismus anbelangt, und sprach klipp und klar vom unvermeidlichen Krieg zwischen Menschen und Posthumanen. Sieht aus, als müsste sie jetzt erst mal ihre Sünden abbüßen – sie wird nämlich, eingesperrt in ihrem virtuellen Limbus, vom eigenen Ehemann als lebender Quantencomputer missbraucht. Es steht zu befürchten, dass dieser Geist in der Maschine sich nicht entradikalisiert haben wird, wenn er doch noch einmal freikommen sollte.
... und neue Gesichter
Dazu rückt nun eine ganze Reihe anderer Figuren in den Vordergrund. Etwa Shus Tochter Ling, ein posthumanes Gör mit erschreckenden Fähigkeiten, das ebenso Nexus im Blut hat wie der autistische Junge Bobby in den USA, den man dort mit anderen Kindern inhaftiert. Oder Breece, ein Angehöriger der Posthuman Liberation Front, die mit Terroranschlägen gegen konservative PolitikerInnen auf sich aufmerksam macht. Shiva Prasad, ein Biotech-Milliardär und Förderer der künstlichen Evolution, der der Philanthropie mit rabiaten Methoden nachgeht. Und schließlich der drogensüchtige Neurowissenschafter Martin Holtzmann, der sich zum tragischen Helden des Romans entwickelt. Er soll für die Homeland Security ein Gegenmittel gegen Nexus entwickeln. Niemand ahnt, dass er – aus völlig eigennützigen Motiven – heimlich selbst Nexus verwendet. Auf Martin wird noch eine Menge zukommen, auweia.
Zwei Seiten einer Medaille
Im Grunde ist "Crux" ein Diskurs in Thrillerform. (Ups, hoffentlich habe ich mit der Formulierung jetzt niemanden vom Kauf abgehalten. Keine Angst: Es ist ein Thriller. Es ist ein Thriller. Es ist ein Thriller. Mit ungeahnten Querverbindungen, Doppelrollen und Action galore.) Wie jede technische Innovation seit dem Gebrauch von Feuer und Steinen lässt sich auch Nexus zum Guten wie zum Bösen verwenden – und Ramez Naam schildert stets beide Seiten. Das beginnt schon ganz am Anfang des Romans, wo direkt hintereinander zwei Nutzungsformen der Droge vorgestellt werden, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Erst verschmelzen MusikerInnen zu einem symphonischen Kollektiv ungeahnter Harmonie – dann missbraucht ein Verbrecher die Möglichkeit, in den Geist eines anderen Menschen einzudringen, für einen versuchten Raubmord.
Und so geht das weiter. Nexus verhilft autistischen Kindern dazu, ihre Isolation zu durchbrechen: ein Segen. Doch werden sie dadurch zu posthumanen Intelligenzen, die ein Kollektiv mit geistigen Fähigkeiten bilden können, die niemand einzuschätzen vermag. Die US-Regierung empfindet das als Bedrohung und steckt die Kinder in eine Art Konzentrationslager: ein Verbrechen. Andererseits ... dass solche Ängste nicht völlig unbegründet sind, führt die kleine Ling vor, als sie in einem Wutanfall dank ihrer Vernetzung einen gigantischen Stromausfall mit zahlreichen Todesopfern auslöst.
Niemand ist nur Licht oder Schatten
Stets das Positive und das Negative zu bedenken, zieht sich hier quer durch alle Bereiche. Das gilt auch für die Romanfiguren. Selbst negativ besetzte Charaktere haben nachvollziehbare Motive: Der größenwahnsinnige Prasad will die Welt retten und ist von seiner Rechtschaffenheit überzeugt. Und die Taten des Terroristen Breece werden verständlich, wenn man seine tragische Vorgeschichte kennt.
Umgekehrt entwickelt auch Kaden – eigentlich ein Idealist reinsten Wassers wie Jim Holden in James Coreys "Expanse"-Reihe – Schattenseiten. Seine Technologie bietet letztlich nichts Geringeres als die Möglichkeit, sich ins Gehirn anderer Menschen zu hacken. Und das tut Kaden auch, nämlich über sogenannte Hintertüren, die er sich im Nexus-Code offen gelassen hat. Natürlich tut er dies nur für gute Zwecke, etwa um ein Verbrechen zu verhindern. Doch wo verläuft die Grenze, wenn er sich wie ein Quasi-Gott gebärdet? Nicht nur er muss sich in "Crux" ernsthaft selbst hinterfragen – und genau das ist es, was Naams Trilogie auszeichnet.
Wie jeder Rundschau-Leser mittlerweile weiß, ziehe ich schlanke Bücher vor – und dieses ist mit 750 Seiten wirklich knapp unter meiner persönlichen Tabu-Grenze geblieben. Allerdings ist "Crux" auch eindeutig kein Fall von einem Roman, zu dem man sagen könnte: Hier hätte man straffen und das hätte man streichen können. Es hat alles seinen Platz und Langeweile kommt auch nie auf. "Crux" ist ... üppig. Aber ausgezeichnet. Der abschließende Band 3, "Apex", ist auf Englisch bereits erschienen.