Die Freiheit des Bürgers steht für Franzosen an erster Stelle, noch vor der Gleichheit an Rechten und der Solidarität in der Gesellschaft. Dieses dreifache Motto der Französischen Revolution – Liberté, Egalité, Fraternité – ist aber nicht taxfrei, nicht ohne Anstrengungen für die Sicherheit zu haben. Das wurde nach den Anschlägen in Paris wohl nicht nur in Frankreich schmerzhaft bewusst.

Das barbarische Töten in den lebenslustigsten Vierteln der Stadt sorgte weltweit für Entsetzen. Herausgefordert sind nun vor allem die Europäer, die Bürger jener Gemeinschaft, in deren EU-Verträgen die Charta der Menschenrechte verankert ist. Die Terroranschläge fanden nur wenige Hundert Meter von der Bastille entfernt statt – vielleicht kein Zufall.

Frankreich ist seit einer islamistischen Terrorwelle Mitte der 1990er-Jahre einiges an Schrecken gewohnt. Als Al-Kaida im September 2001 in New York und Washington 3000 Menschen in den Tod riss, folgte die Regierung in Paris den USA in den Krieg gegen das Taliban-Regime in Afghanistan; in den Irakkrieg 2003 nicht.

Diesmal ist einiges anders zu sehen. Neun von zehn Franzosen befürworten härtere polizeiliche Maßnahmen gegen Islamisten. Sie unterstützen, dass ihr Präsident François Hollande dem IS "den Krieg" erklärt hat. Die Anschläge von Paris markieren ein "9/11" mitten in Europa. Sicherheitspolitisch dürfte in der EU bald nichts mehr so sein wie zuvor.

Zum einen steht ein von der Uno ermächtigter Krieg gegen den IS in Syrien ins Haus. Darüber, ob das richtig oder falsch ist, wird es unter den Europäern noch heftige Debatten geben.

Zum anderen stellen sich viele Fragen zur inneren Sicherheit in der Europäischen Union neu, die über die Nationalstaaten hinausgehen.

Was konkret? Hollande hat zu Hause nicht nur den Ausnahmezustand ausgerufen, er hat die Führung dieser ganzen EU-Entwicklung übernommen. Die deutsche Regierung zaudert. Nach einem Solidaritätsbesuch des britischen Premierministers David Cameron in Paris reiste der Präsident zu US-Präsident Barack Obama nach Washington; Donnerstag ist er beim russischen Präsidenten Wladimir Putin in Moskau. Sein Ziel: das Schmieden einer breiten Achse des militärischen Antiterrorkampfes mit Uno-Deckung. In Wien wird politisch über eine Syrien-Lösung verhandelt.

Für die EU der vielen kleinen (und neutralen) Staaten ist diese "Großmachtpolitik" nicht die einzige Belastung. Frankreich hat nicht nur die militärische EU-Beistandspflicht eingefordert. Paris wird (mit anderen Staaten) auch bei innerer Sicherheit / Justiz einen schärferen Kurs einfordern.

Auf diesem Feld klaffen die Interessen der Mitgliedstaaten weit auseinander – fast noch mehr als bei der Europolitik. Datenkontrolle und -speicherung ist bei Franzosen ebenso akzeptiert wie die Tatsache, dass für Terrorverdächtige ein Teil der Bürgerrechte nicht mehr gilt. Insbesondere in Deutschland, das bisher vom Terror verschont wurde, scheint es genau umgekehrt zu sein.

Jedes EU-Land hat diesbezüglich seine eigene Balance, je nachdem, welche Geschichte, welche Tradition es im Verhältnis von Bürgern zur Staatsmacht aufweist. Will die Union ihre Offenheit, die Abwesenheit der Grenzkontrollen bewahren, dann müssen ihre Mitgliedstaaten bei Freiheit und Sicherheit dringend einen gemeinsamen Konsens erarbeiten. Gelingt das nicht, könnte die Union zerbröseln. (Thomas Mayer, 23.11.2015)