Otto F. Kernberg beschäftigt sich seit 60 Jahren intensiv mit der Psychoanalyse.

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STANDARD: Sie sind seit vielen Jahrzehnten als Psychoanalytiker tätig, verfolgen und gestalten die Entwicklung der Psychoanalyse über einen langen Zeitraum mit. Welchen Stellenwert haben die Erkenntnisse Sigmund Freuds aus der Sicht der modernen Psychoanalyse?

Otto F. Kernberg: Meiner Meinung nach steht die Psychoanalyse auch heute noch sehr stark unter dem Einfluss Freuds. Er hat wichtige Erkenntnisse gebracht, die nach wie vor fundamental bestimmend sind. Die Entdeckung der unbewussten Motivation von Verhalten zum Beispiel. Freud beschrieb das Unbewusste im Sinne von Trieben wie Libido und Aggression. Heutzutage würden wir das anders beschreiben, denn heute weiß man, dass ihr Ursprung in Affektsystemen liegt, die genetisch gegeben sind und sich neurobiologisch ausdrücken, was zu Freuds Zeiten vollkommen unbekannt war.

In dieser Beziehung muss von einem modernen neurobiologischen Standpunkt aus die gesamte Triebtheorie Freuds umgeordnet werden. Aber Freud selber war sich im Klaren, dass er die Neurobiologie seines Zeitalters verließ, um eine Metapsychologie aufzustellen, von der er wusste, dass sie eine zeitbegrenzte sein würde. Ich glaube, wenn Freud heute am Leben wäre, wäre er vollkommen zufrieden mit der Weiterentwicklung seiner Metapsychologie auf der Basis der modernen Neurobiologie, da er selber immer voller Achtung gegenüber der biologischen Disposition des Verhaltens war.

STANDARD: Welche Entwicklungen haben sich im Folgenden noch ergeben?

Kernberg: Im Wesentlichen beruht unter anderem unser heutiges Verstehen der narzisstischen Persönlichkeit auf Freuds Theorie des Narzissmus, auch wenn er die narzisstische Persönlichkeit als solche selbst noch nicht erkannte. Melanie Klein beschrieb frühe Abwehrmechanismen und die fundamentale Bedeutung der frühen Beziehung zwischen Mutter und Kind – beides hatte Freud noch nicht erkannt. Das Gebäude, das er aufgebaut hat, hatte große Lücken, die noch gefüllt werden sollten.

In dieser Beziehung hängen wir nicht mehr vollkommen von Freud ab. Die fundamentale Struktur von Theorie, Technik und Anwendungen sind doch da. Freuds Ideen über Massenpsychologie haben heute besondere Wichtigkeit bekommen. Wir leben in einer Zeit von Massenbewegungen, intellektueller Regression und Primitivisierung von ideologischen und politischen Einstellungen. Ich selber jedenfalls bete Freuds Ideen weder an, als ob sie endgültige Wahrheiten wären, noch habe ich die Einstellung, alles als überholt zu bezeichnen. Das ist es zum Großteil nicht.

STANDARD: Der Psychoanalyse wurde in der Vergangenheit oft Dogmatismus vorgeworfen. Wie stehen Sie zu diesen Vorwürfen?

Kernberg: Dogmatiker gab und gibt es in jeder Behandlungsrichtung, so auch in der Psychoanalyse. Ich glaube nicht, dass das ein fundamentaler Aspekt der Theorie der Psychoanalyse ist. Es gibt nach wie vor konservative Kreise, die dogmatisch sind, und es gibt Psychoanalytiker, die sich sehr für andere Richtungen interessieren und vergleichende Forschungen betreiben – so wie ich.

Ich glaube, dass dieser Vorwurf des Dogmatismus gegenüber der Psychoanalyse zum Teil von ihr selber verursacht wurde, indem sich Psychoanalytiker früher in eine isolierte, elitäre Position gebracht haben, sich in einen Elfenbeinturm zurückgezogen haben im Versuch, sich von der Außenwelt abzuschotten und sich vor Angriffen zu schützen. In den USA war die Psychoanalyse in den 1950er- und 1960er-Jahren in den psychiatrischen Abteilungen der Universität in einer kontrollierenden Position, erweckte aber großen Widerstand.

Als Reaktion darauf ist sie praktisch aus der Psychiatrie verschwunden, wurde durch Psychopharmakologie und kognitiv verhaltenstherapeutische Einstellungen ersetzt. Aber die Psychoanalyse als Institution hat aus diesen Erfahrungen gelernt. Heutzutage herrscht eine viel größere Offenheit, und ich denke, dass das langsam auch in der allgemeinen Kulturauffassung der Psychoanalyse ankommen wird.

STANDARD: Die Psychoanalyse steht vor dem Problem, dass die Kostenübernahme durch die Krankenkassen immer stärker eingeschränkt wird. Menschen können sich langjährige Behandlungen ohne finanzielle Unterstützung oft nicht leisten. Welche Schlüsse ziehen Sie daraus?

Kernberg: Ich denke, dass der Aspekt der Forschung über die Effektivität der Psychoanalyse hier ein wichtiger Ansatz ist – ebenso wie der Vergleich mit anderen Behandlungsmethoden. Klinisch ist es meiner Meinung nach ganz klar, dass es Pathologien gibt, die mit der Psychoanalyse am besten behandelt werden können, andere wiederum, die am besten mit psychoanalytischer Psychotherapie behandelt werden, und solche, wo die kognitive Verhaltenstherapie die Methode der Wahl darstellt.

Es gibt eine große Anzahl von Behandlungsmöglichkeiten, auch psychopharmakologische, soziale Rehabilitation und so weiter. Es gilt wissenschaftlich festzustellen, welche Patienten am besten mit welcher Methode behandelt werden sollen. Wenn wir gute Beweise dafür haben, was wie am besten wirkt, wird sich auch das Problem der Kostenübernahme durch die Krankenkassen lösen.

STANDARD: Das heißt, Sie stehen anderen therapeutischen Behandlungsmethoden offen gegenüber?

Kernberg: Für die Psychoanalyse, die psychoanalytische Psychotherapie und die kognitive Verhaltenstherapie gibt es unterschiedliche Indikationen, aber alle können hilfreich sein. Ich glaube aber, dass die Psychoanalyse als Theorie noch immer die reichste und tiefste Theorie der Entwicklung, Struktur und Pathologie der Persönlichkeit bietet. Das heißt aber nicht, dass sie als einzig mögliche Einstellung gegenüber Behandlungen psychischer Probleme gesehen werden kann.

Es gibt auch wichtige Beiträge der Psychopharmakologie, die aber auch wesentliche Beschränkungen hat. In den Vereinigten Staaten wurde eine Zeitlang intensiver Druck seitens der Pharmaindustrie ausgeübt, alles mit Medikamenten zu behandeln, neue Diagnosen zu finden, die medikamentöse Behandlungen nach sich ziehen würden. Mittlerweile ist aber ein Bewusstsein dafür entstanden, dass dabei übertrieben worden ist.

STANDARD: Sie haben mehrfach Psychoanalyse und psychoanalytische Psychotherapie erwähnt. Wo liegt da der Unterschied?

Kernberg: Die psychoanalytische Psychotherapie benützt die Methode und die Technik der Psychoanalyse, aber modifiziert sie auf eine Art, sodass sie intensiver, mit niedriger Frequenz und kürzerer Dauer angewendet werden kann. Es gibt Änderungen im Setting, aber fundamentale psychoanalytische Techniken wie Deutung, Übertragungs-, Gegenübertragungsanalyse sowie technische Neutralität des Therapeuten bleiben erhalten.

STANDARD: Sie selbst sind Psychiater, haben also eine medizinische Grundausbildung. Wie wichtig ist eine psychiatrisch-medizinische Ausbildung in der Tätigkeit als Psychoanalytiker, Psychotherapeut?

Kernberg: Die psychoanalytische Ausbildung verlangt eine gute, allgemeine Basis im Bereich der Psychopathologie und der klinischen Psychiatrie. Allgemeine Ärzte, die nicht über eine psychiatrische Ausbildung verfügen, sollten psychiatrische Erfahrungen in entsprechenden Institutionen ebenso wie Psychologen, Sozialarbeiter oder andere Berufsgruppen über eine gewisse Zeit sammeln.

Das ist ein wesentlicher Aspekt in der Entwicklung der Fähigkeit, Diagnosen zu stellen: Indikationen von unterschiedliche Behandlungen zu kennen, zu wissen, welche Patienten an wen geschickt werden sollen. Wer keine klinische Erfahrung vorweg mitbringt, soll sich diese also im Zuge der Ausbildung aneignen. So ist es auch in den Ausbildungsrichtlinien festgelegt.

STANDARD: Sie haben anfangs Freuds Ausführungen zur Massenpsychologie im aktuellen Kontext von Massenbewegungen angesprochen. Wie ist der "Islamische Staat" unter diesem Blickwinkel zu verstehen?

Kernberg: Es handelt sich um eine Psychologie, die entsteht, wenn ein Mensch Teil einer Masse ist, in der keine persönlichen Beziehungen herrschen, aber es ein gemeinsames Ideal, eine Führerschaft, eine politische Ideologie gibt. Es entsteht ein Glaubenssystem, das die Welt in absolut gut und absolut böse unterteilt.

Das Böse wird als bedrohend für das Überleben des "idealen" Teils der Menschheit erlebt und muss daher zerstört werden. Ist eine Ideologie gleichzeitig auch Religion, dann ist die Führerschaft nicht mehr menschlich, sondern Gott selbst leitet, und es entsteht eine gefährliche politische Bewegung unter dem Namen der Religion, wie es beim "Islamischen Staat" der Fall ist.

STANDARD: Was sind die Ursachen solcher Entwicklungen?

Kernberg: Die Ursache steckt in einer Verbindung von individueller Prädisposition zu Aggressivität und dem Verlieren traditioneller sozialer Strukturen, von geschichtlichen Krisen, die eine Gesellschaft in eine gefährliche Situation bringen können, sowie vom Vorherrschen bestimmter theoretischer und politischer Einstellungen. Und letztlich die Entwicklung einer Führerschaft, die gleichzeitig genügend paranoid und narzisstisch ist, also selbstsicher, großartig und paranoid.

Geschichtlich entstehen diese Bewegungen in Zeiten großer gesellschaftlicher Krisen wie nach dem Ende des Ersten Weltkriegs der Faschismus und der kommunistische Marxismus. Im aktuellen Fall zeigt die Globalisierung den Kontrast zwischen der islamischen Tradition des Nahen Ostens und der modernen Entwicklung des Westens auf, was eine große Krise nach sich zieht.

Terrorismus stellt eine spezialisierte Funktion solcher Ideologien dar. Es gibt eine auserlesene Minderheit, die bereit ist, den Feind aktiv zu bekämpfen, das Leben auf die Zerstörung des Gegners zu konzentrieren und durch Terrorakte den Gegner zu paralysieren und die Struktur der feindlichen Gesellschaft zu zerstören.

STANDARD: Wie soll damit umgegangen werden?

Kernberg: Vom Terror bedrohte Länder brauchen den Willen, die demokratischen Freiheiten vorübergehend in einem gewissen Grad zu reduzieren, denn der Terrorismus benützt die offene Gesellschaft, um sich zu entwickeln. Und die offene Gesellschaft muss einen Grad von Geschlossenheit entwickeln, die es ihr erlaubt, den Terrorismus zu bekämpfen. Das haben Soziologen in Südamerika vor 20 Jahren erkannt. Jetzt erkennt man das auch in Frankreich. (Daniel Weber, 24.11.2015)