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Wer leitet wen, wenn es um die österreichische Leitkultur geht? Haben alle die gleichen Vorstellungen von Demokratie und Freiheit?

Foto: APA/Erwin Scheriau

Marlene Streeruwitz (DER STANDARD, 11. 11. 2015) meint, dass ein "Zwang zu weltanschaulichen Werten" im Widerspruch zur Idee einer Demokratie stehe und diese unterminiere. Sie lehnt deshalb den Vorschlag der ÖVP ab, Asylwerber auf eine österreichische Leitkultur zu verpflichten, und beruft sich dabei auf Rousseau. Diese Berufung ist wenig gelungen.

Gerade Rousseau ist es, der im Contrat social eine demokratische Republik skizziert, die auf Zwang nicht verzichtet. In einer berühmten Formulierung des Genfers heißt es, der Bürger müsse "gezwungen werden, frei zu sein", und er konzipiert sogar eine Zivilreligion, die für alle verbindlich sein soll. In seiner Schrift über die Verfassung Polens plädiert Rousseau für eine nationale Erziehung, die totalitäre Züge trägt und durch Indoktrination, Volksfeste etc. eine patriotische Gesinnung herstellen soll. Rousseaus Republik setzt eine homogene Bevölkerung voraus, in der die "volonté de tous" in eine vernünftige, naturrechtlich begründete "volonté générale" überführt wird. Rousseau macht also genau das, was Streeruwitz ablehnt: Er stellt (republikanische) Werte über die Demokratie. Der bloße empirische Wille aller soll in einen moralisch-politischen Gemeinwillen transformiert werden, der sich am Gemeinwohl, an Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit orientiert.

Mehrheitsprinzip

Rousseaus politische Philosophie ist nicht nur von antiquarischem Interesse. Er hat auf ein Problem verwiesen, das heute gerne mit dem Böckenförde-Paradoxon formuliert wird, dass nämlich "der freiheitlich säkularisierte Staat (...) von Voraussetzungen (lebt), die er selbst nicht garantieren kann". Genau deshalb soll Rousseaus Republik jene Werte selbst hervorbringen, die ihr Gedeihen sicherstellen.

Interessant ist, dass Marlene Streeruwitz nur von der Demokratie schreibt, nicht aber von Republik oder Rechtsstaat. Demokratie bedeutet lediglich Herrschaft des Volkes und damit das Mehrheitsprinzip. Warum diese Demokratie wertvoll sein soll, kann Demokratie selbst nicht begründen. Dazu benötigen wir eine Rechtsphilosophie, die Werte bzw. Normen wie Demokratie, Volkssouveränität oder rechtliche Gleichheit als legitim nachweist.

Lässt sich nun "Zwang zu weltanschaulichen Werten" begründen? Nein, aber jeder demokratische Rechtsstaat hat ein berechtigtes Interesse daran, die Werte, die ihn ausmachen, an die nachwachsende Generation oder Immigrantinnen und Immigranten weiterzugeben. Das ist nicht notwendigerweise mit Zwang verbunden; in den Schulen wird unter anderem im Fach Politische Bildung diese Vermittlung von rechtsstaatlichen Werten betrieben. Selbst Kant, der gerne als Verfechter einer strikten Trennung von Recht und Moral angeführt wird, hat in seiner Pädagogik (kosmo)politischer, moralischer und religiöser Bildung in öffentlichen Institutionen den zentralen Platz eingeräumt.

Die Frage lautet, welche Art von Leitkultur im Mittelpunkt stehen soll. Ich vermute, dass die ÖVP oder Sebastian Kurz nicht an die katholische Leitkultur des austrofaschistischen Ständestaates gedacht haben, sondern in etwa an das, was ich skizziert habe.

Republikanische Identität

Ironischerweise war es der muslimische Politologe Bassam Tibi, der den Begriff der Leit- kultur in die Diskussion eingeführt hat und diese mit "Demokratie, Laizismus, Aufklärung, Menschenrechte und Zivilgesellschaft" beschrieben hat. Einwanderer sollten integriert werden, dies gelinge aber nur, wenn ihnen eine republikanische Identität (im Gegensatz zu einer ethnischen) gegeben werde, die um den Begriff des Citoyen kreise (Rousseau lässt grüßen).

Zu jeder Identität gehöre aber eine Leitkultur. Das bedeutet jedoch nicht, dass das Gastgeberland den Asylwerbern die eige- ne kulturelle Lebensform vorschreibt.

Mich überzeugt es wenig, wenn Streeruwitz bei der "großen Mehrzahl" der Flüchtlinge vermutet, sie würden auf Demokratie, Freiheit und Gleichheit hoffen. Erstens unterstellt das Motive, die nicht nachweisbar sind, und zweitens gibt es leider zu viele Hinweise, dass es sich hier um Wunschdenken handelt. Liberale Muslime wie etwa Ed Husain (The Islamist, London 2007), die in westlichen Ländern leben, betonen immer wieder, wie sehr selbst Muslime der zweiten Generation in westlichen Ländern einen radikalen Islam vertreten, der häufig paranoid, antisemitisch, dogmatisch und totalitär ist.

Sinnvolles Projekt

Die Muslima, Lesbe und Feministin Irshad Manji, die ihre Kindheit in Richmond, British Columbia, verbrachte, schildert das in ihrem ersten Buch (The Trouble with Islam, New York 2003). Da einfach zu hoffen, dass die meisten Asylwerber schon "irgendwie" an der Art von Demokratie und Freiheit interessiert sind, wie das die Mehrheitsgesellschaft definiert, halte ich für etwas naiv.

Das Konzept einer republikanischen Leitkultur, die auf die starke Version Rousseaus und auf Partikularismen verzichtet und sich am Menschenrechtsuniversalismus orientiert, ist ein sinnvolles Projekt. Dem können dann auch aufgeklärte Muslime wie Bassam Tibi oder Muslimas wie Irshad Manji zustimmen, die ihr Buch mit dem Kapitel "Ich danke Gott für den Westen" beschließt. (Georg Cavallar, 23.11.2015)