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Sonnenuntergang in Paris am Mittwoch: Der Eiffelturm erstrahlt im Gedenken an die Opfer der Anschläge in den französischen Nationalfarben.

Foto: AP Photo/Daniel Ochoa de Olza

Seit vielen Tagen strömte warme Luft über den Kontinent. Meteorologen überraschte das nicht, sie hatten darauf gewartet. Auch in Europa war das Wetter von El Niño beeinflusst. Vom Atlantik zogen feuchte und milde Luftmassen herein, und selbst kleinere Abkühlungen, wie für die Nacht auf Samstag prognostiziert, lagen noch über dem langjährigen Monatsmittel.

Der Freitagabend der Attentate begann so warm und lau wie die meisten Abende der Wochen davor. Ob in Lissabon oder Berlin, Amsterdam, Wien oder Paris, selbst nach Sonnenuntergang trugen viele die Hemdkrägen offen, hatten ihre Pullover oder Sakkos über die Schultern geschlagen; am Himmel ein letztes Hellblau, während die Straßenlichter und Geschäftsauslagen, die gläsernen Fronten der Lokale und Autoscheinwerfer um die Wette strahlten.

Feierabend war es und Ende der Arbeitswoche. Hupende Autos, blinkende Ampeln, Fußgängergewimmel, dazwischen Skateboarder und Motorroller. Eine nächste Runde wird gezahlt. Anstoßen, durchatmen und Augenblicke, in denen einem alle Sinne nichts als die Zeitlosigkeit glauben machen. So schimmerten wie an vielen Abenden auch an diesem die Städte des Kontinents als helle Lichtinseln im nächtlichen Himmel, während in Saint-Denis das unberührte Flutlichtgrün des Stade de France auf das Länderspiel wartete.

Strafraum und Tor

Makellos markiert, die weiß getünchte Geometrie der Spielfeldlinien; Seitenrand, Mittelauflage, Elfmeterpunkt, Strafraum und Tor. Nur wenige Stunden später hallten vor den Stadioneingängen die ersten Detonationen dieser Anschlagsnacht durch den Pariser Vorort.

Noch aber war das Oval verschlossen und sein Grün leer, ringsum Spaziergänger und ihre Hunde, verwaiste Souvenirstände sowie jene kleinen Fangruppen, für die auch eine bestenfalls aus der Entfernung erlebbare Anfahrt der Mannschaftsbusse zu den Höhepunkten eines solchen Fußballabends gehörte.

Der erste Knall sollte schließlich in der 17. Spielminute kommen, er wurde live im TV übertragen. Auf dem Spielfeld ein Fehlpass, gleichzeitig ein kurzes Aufrauschen der Zuschauerstimmen, gefolgt von vereinzeltem, hilflos, beinahe trotzig wirkendem Anfeuerungsgetröte.

Vom Moderator ist nichts zu hören, bevor sein erster Satz wie beiläufig an die vor den Apparaten sitzenden Zuschauer gerichtet ist: Ich weiß nicht, ob Sie das laute Geräusch gehört haben ... klang wie eine Explosion ... Drei Minuten später der zweite Knall.

Physische Ratlosigkeit

Diesmal auf dem Spielfeld deutliche Entgeisterung, unübersehbar an den Fußballern, wie augenblicklich alle Spannung aus den Körpern verschwindet. Eine sekundenlange physische Ratlosigkeit. Bis das Spiel wiederum weiterläuft, während drinnen in der Stadt wenige Minuten später ein Morden beginnt, dessen Willkür und Erbarmungslosigkeit noch lange eine Zäsur in der Geschichte Europas darstellen wird.

Wie bislang nur das große Attentat von Madrid richteten sich die Anschläge von Paris weder gegen eine spezifische Bevölkerungsgruppe noch gegen staatliche Symbole oder Institutionen, ebenso wenig gegen bestimmte Feindbilder in Politik, Religion, Wirtschaft oder Medien. Sie galten dem europäischen Alltag, sie galten den Menschen auf der Straße. Wobei der Raserei dieser Feierabendstunden etwas anhaftet, das sie von der Bombe im morgendlichen Pendlerzug kurz vor dem Einfahren in den Madrider Hauptbahnhof Atocha unterscheidet.

Dabei handelt es sich nicht um die Unmittelbarkeit der Attentäter, um den Griff der Finger an den Maschinengewehren oder das Zünden der Sprengstoffwesten im Gegensatz zu der aus der Entfernung gezündeten Bombe. Vielmehr ist es, als spürte man es, selbst noch tausend Kilometer von der getroffenen Stadt entfernt, kaum betastete man die eigene, unversehrte Haut mit den Fingerkuppen. Benennen lässt sich das nicht. Umso schriller läuten die Alarmglocken, wenn sogar der klar- und hellsichtige Gustav Seibt in der "Süddeutschen Zeitung" über die mörderischen Geschehnisse schreibt, sie müssten jeden Bürger der westlichen Welt tief ins Herz treffen, da es um unsere Art zu leben gehe.

Natürlich – klar und begreifbar wären die Fronten, behielte Seibt recht, wenn er von der Symbolkraft des feierabendlichen Anschlagsziels hochtrabend schreibt, es gehe um ein welthistorisch ziemlich spätes, ziemlich einzigartiges Amalgam von Freiheit und Lebensfreude, Aufklärung und Hedonismus: um den Ort, wo Diderot seine Encyclopédie projektierte, während in den Salons Champagner zu Austern getrunken wurde, wo kurz danach eine der großen Menschenrechtserklärungen Gesetzeskraft erhalten habe und eine politisch-kulturelle Dynamik entfesselt worden sei, die unsere Welt bis heute präge. Das ist nicht falsch, doch leider auch Kitsch, der kaum weiterhilft, wenn es um die Frage geht: Was ist an diesem Abend wirklich mit uns geschehen, an dem binnen kürzester Zeit jegliches zivile Leben von der Straßen verschwand?

Krieg, das ist Krieg

In den Stunden und Minuten, in denen ein Fußballspiel weiterging, um eine Massenpanik zu verhindern, während im Bataclan Menschenreihe um Menschenreihe von unaufhörlichen Kalaschnikowsalven niedergemäht wurde? Was ist es, das man seit der ersten Nachricht von den Anschlägen als Ohnmacht, Schock, Verstörung, Angst, Trauer und Stummheit an der eigenen und auf einmal viel zu engen Haut spürt?

Krieg; das ist Krieg. Doch bei leibe nicht jener, wie ihn der französische Staatspräsident François Hollande noch in derselben Nacht als einen um die Freiheit proklamiert. Der Krieg, den man an der eigenen Haut spürt, beginnt dort, wo angesichts eines derartigen Schreckens spürbar wird, wie leer sich hinter den Fassaden des jäh unterbrochenen Feierabends alles anfühlt, wie erstickend, während wir unablässig von Freiheit reden.

Denn genau das ist er, jener Krieg, über den ich auf den Tag genau vor einem Jahr angesichts der Tötungen des IS schrieb, dass er weder geografisch noch ideologisch lokalisierbar sei. Ein Weltbürgerkrieg, der an jenen Marktplätzen der Gegenwart stattfinde, an denen weder die eigene, handgreifliche Abwehr noch irgendeine andere Hilfe oder Polizei einschreiten könne.

Weite Entfernung

Vielleicht erleichtert es kurzfristig, all die Gräuel als Glaubenskriege zu etikettieren, fügte ich letzten November unter dem Eindruck der expliziten Tötungsvideos hinzu: Sie hätten mit unserer säkularen Welt nichts zu tun oder wären zumindest so weit wie die letzten Kreuzzüge entfernt. Letztlich aber seien wir hilflos, wie unmittelbar uns der Tod aus diesem Krieg anstarre. Er führe uns vor, wie wenig Platz hinter einer Gegenwart noch geblieben sei, deren kapitalistische Unermüdlichkeit immer weniger Wünsche, Sehnsüchte, Hoffnungen und Vorstellungen offenlasse.

Es führt nicht nur in die Irre, die Entsetzlichkeit live gefilmten Köpfeabschneidens oder das willkürliche Morden ausgelassener Passanten oder Konzertbesucher als Teile eines religiösen Feldzuges zu begreifen, sondern kommt den Terroristen sogar als willkommene Propaganda zugute.

Trotzdem sind rings um die glitzernden Idyllen unserer Gesellschaft nunmehr alle verfügbaren Sondereinheiten aufmarschiert, wir schießen zurück und tun es auch auf Verdacht. Es wird nichts nützen. So hektisch und hilflos wir unseren ungeheuer hehren Begriff von Freiheit auch immer in Stellung bringen; krampfhaft umklammert von einer Gesellschaft, die diese Freiheit genauso als Besitz betrachtet wie Sicherheit und Wohlstand. Solange wir aber die Freiheit nicht als Utopie begreifen, deren Antriebskräfte sich gleichermaßen aus Gerechtigkeit und Solidarität speisen, wird unser unentwegtes Freiheitsgerede an seiner eigenen Hohlheit ersticken. Innerlich, ganz so wie es bei Ertrinkenden geschieht, sobald das Wasser nur weit genug vorgedrungen ist.

Derartiges ist in den Lungen unseres Kontinents längst der Fall. So stolz dieses Europa Idee und Erbe der Aufklärung mit sich trägt, so wenig hat es sich daran gehalten. Historisch betrachtet verwundert das kaum. Schließlich waren die Entwicklung des Bürgertums und jene ökonomischen Umwälzungen der Industrialisierung, die dem Adel ökonomische Macht entzogen, für das Ende des Feudalsystems viel eher verantwortlich als alle Aufstände und Revolutionen. Wirtschaftliche Grundlage all dessen wiederum war die einträgliche Ressourcen- und Handelslage des im 19. Jahrhundert mit der Kolonialisierungsherrschaft Europas über so gut wie die gesamte rest liche Welt einsetzenden Imperialismus.

Verbrannte Erde

Anders hätte es nie jene gesellschaftliche Dynamik gegeben, in der sich das Bürgertum in unseren Ländern emanzipierte. So gerne Europa die Begriffe von Freiheit und Demokratie mit moralischen Ausrufezeichen versieht, so eng waren sie stets mit ökonomischen Voraussetzungen verknüpft. Keine Rede von jenen Grenzen der Freiheit, wie sie die französische Nationalversammlung im ergreifend einfachen Artikel 3 der Menschenrechtserklärung dort setzte, wo sie einem anderen schade.

Die Freiheit Europas beruhte von Anfang an auf Ausbeutung anderer. Bis heute dauert der Raub von Bodenschätzen in Afrika und dem gesamten arabischen Raum an. Alles andere als zufällig gleichen die kartografischen Einzeichnungen kostbarer Ressourcen so gut wie immer jenen politischer Destabilisierungszonen sowie von Bürgerkriegen und ähnlichen Konflikten. Stets mit dem ökonomisch nur allzu willkommenen Ergebnis rechtsfreier Räume, lokaler Abhängigkeiten und billiger Abbaumöglichkeiten.

Keineswegs aber wird das Integrationsangebot unserer Gesellschaft an Flüchtlinge und Immigranten je ehrenhaft und glaubwürdig genug sein, solange die großzügig darin postulierten Angebote eines fortan geteilten Wohlstands weiterhin auf der neokolonialistischen Ausbeutung von Ländern und Gegenden unserer Welt beruhen, deren verbrannte, verbrauchte Erde zynischerweise nur zu oft Beweggrund der jeweiligen Emigration oder Flucht war. Ein Teufelskreislauf, wie er aussichtsloser kaum erfunden sein könnte.

Große Worte

Beinahe ist man versucht zu sagen, es werde wohl noch viel warme Luft über Europa ziehen, bis sich auch nur einer dieser unheilvollen Zusammenhänge lösen ließe. Stattdessen noch unzählige solch warmer, lauer Freitagabende, deren Ursprung in der Erwärmung pazifischer Meeresoberflächen liegt und höchstwahrscheinlich nur ein anderes Resultat des ungehemmten Umgangs mit den Ressourcen der Erde ist. Am Himmel ein letztes Hellblau, die Hemdkrägen offen, Pullover und Sakkos über die Schultern geschlagen.

Es wäre Feierabend; alles wäre wie immer, und doch wird es das hoffentlich nicht sein. Denn mitten unter den großen Worten, den Sondereinheiten, der Angst, Überwachung und den geschlossenen Grenzen sind die Zeilen eines Mannes aufgetaucht, mit deren Wirkung sich keine noch so scharfe Maschinengewehrkugel dieser Welt je messen kann. Sie stammen von Antoine Leiris, einem Journalisten, dessen Frau Hélène Muyal-Leiris im Alter von 35 Jahren beim Terroranschlag auf das Bataclan ermordet worden ist:

"Am Freitagabend habt Ihr mir das Leben eines außergewöhnlichen Menschen geraubt, die Liebe meines Lebens, die Mutter meines Sohnes, aber meinen Hass, den bekommt Ihr nicht. Ich weiß nicht, wer Ihr seid, und ich will es auch gar nicht wissen, denn Ihr seid tote Seelen. Wenn dieser Gott, für den Ihr so blind mordet, Euch nach seinem Ebenbild erschaffen hat, dann hat jede Kugel im Leib meiner Frau auch sein Herz verletzt."

"Deshalb nein, ich werde Euch jetzt nicht das Geschenk machen, Euch zu hassen. Sicher, Ihr habt es genau darauf angelegt – doch auf diesen Hass mit Wut zu antworten, das hieße, sich derselben Ignoranz zu ergeben, die aus Euch das gemacht hat, was Ihr seid. Ihr wollt, dass ich Angst habe, dass ich meine Mitbürger mit Argwohn betrachte und meine Freiheit für meine Sicherheit opfere. Vergesst es. Ich bin und bleibe der, der ich war."

Wir sind zu zweit

So schreibt es Antoine Leiris an diesem Montag, nachdem er die Leiche seiner Frau am Vormittag identifizierte und sie dabei wieder gesehen hatte. Endlich, nach Tagen und Nächten des Wartens. Sie sei noch genauso schön wie Freitagabend gewesen, als sie losging, genauso schön wie damals, vor über zwölf Jahren, als er sich unsterblich in sie verliebte. Er wisse, sagt er, sie werde ihn jeden Tag begleiten, und ebenso gewiss sei er, dass sie sich in einem Paradies der freien Seelen wiedersehen würden – in eben dem Paradies, zu dem die Terroristen, die er dabei direkt anspricht, niemals Zutritt haben könnten.

"Wir sind zu zweit, mein Sohn und ich, aber wir sind stärker als alle Armeen dieser Welt. Ich habe auch nicht mehr viel Zeit für Euch, denn ich muss zu Melvil gehen, der gerade aus seinem Nachmittagsschlaf erwacht. Er ist noch nicht einmal 17 Monate alt, er wird jetzt eine Kleinigkeit essen wie jeden Nachmittag, und dann werden wir mit einander spielen, auch wie jeden Tag, und dieser kleine Junge wird für Euch sein Leben lang ein Affront sein, weil er glücklich sein wird und frei. Denn, nein, auch seinen Hass werdet Ihr nie bekommen." (Martin Prinz, 22.11.2015)