"Postimperiale Räume werden die Europäer jahrzehntelang beschäftigen", sagt Herfried Münkler.

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Herfried Münkler: "Kriegssplitter. Die Evolution der Gewalt im 20. und 21. Jahrhundert". € 25,70 / 400 Seiten. Rowohlt Berlin, Berlin 2015

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Die sicherheitspolitische Unbesorgtheit ist vorbei. Sofern es überhaupt eine Friedensdividende in den letzten zwanzig Jahren gegeben hat, so ist sie aufgezehrt. Diese Diagnose des deutschen Politikwissenschafters Herfried Münkler ist frei von Melancholie wie von Zynismus, das macht sie so bedrängend und argumentativ bestechend. In "Kriegssplitter" führt der Ordinarius an der Berliner Humboldt-Universität seine in früheren Veröffentlichungen wie "Die neuen Kriege und Imperien" angestellten Überlegungen zu Krieg und Neuen Kriegen, Gewalt und deren Evolution zusammen. Aktueller könnte eine solche pointierte Synthese nicht sein. Auch weil sich in der öffentlichen Debatte ein intellektuell nachlässiger Umgang mit Begriffen eingebürgert hat, was Münkler schneidend seziert. So ist etwa "Krieg" ein syntaktisches Tabu geworden. Wieso? Vor allem hier liefert Münklers verbalpathologischer Befund Wichtiges. Krieg steht konträr zum Lebensgefühl der postheroischen Gesellschaften der westlichen Hemisphäre.

Das Gegensatzpaar postheroische Gesellschaften und heroische Gemeinschaften ist das Charakteristikum der kriegsgesättigten Gegenwart. Erstere haben sich nach den Hekatomben zweier Weltkriege für eine Pazifizierung entschieden, unter der Hand auch für eine Abtretung militärischer Aufgaben an Geheimdienste oder Privatunternehmer. Der Mythos des Selbstopfers ist der Mentalität der europäischen Wohlfahrtszone inzwischen vollkommen fremd geworden, militärisches Einschreiten löst Dispute aus, Kriegerethos ist zum Sujet pathetisch-trivialer, von der U.S. Army unterstützter TV-Serien abgesunken.

Identitätserfindung

Hingegen erklärt sich der bedingungslose Fanatismus terroristischer Gruppierungen wie des sogenannten Islamischen Staates durch, wie Münkler eindringlich konstatiert, eine Identitätsauffüllung, eine Identitätserfindung. Rigidität, Uniformität, das Gefühl des Auserwähltseins beseelen Fanatiker. Ihr Sendungsbewusstsein, das sie in den offenen, liberalen Gesellschaften aus eigener Kraft nicht finden konnten, zielt auf Totalität ab, auf die Totalität radikaler Auslöschung des Anderen, der absolut negativ gebrandmarkt wird: als materialistisch, hedonistisch, diesseitig, areligiös, also diabolisch und zudem, wenn noch Zeit ist, als zionistisch.

Schon Münklers Buch "Der Große Krieg" ragte vor zwei Jahren in der damaligen Flut von Neuerscheinungen über den Ersten Weltkrieg nicht nur ob des Umfanges heraus, auch wegen der Reflexionshöhe. Nochmals umreißt er in "Kriegssplitter" bündig die Eskalation der Gewalt in den Jahren 1912 bis 1914 in Europa, skizziert die Methodiken der Kriegs- und Schlachtenführung und die konträren Lehren, die daraus teils fatal gezogen wurden. Vehement betont er die psychischen Gegebenheiten gewaltaffiner Einzelner, des preußischen Generals von Falkenhayn, der auf Ausbluten des Feindes Frankreich setzte – das Ergebnis war das Massenabschlachten vor Verdun -, wie des vehement auf Krieg drängenden österreichischen Generalstabschefs Franz Conrad von Hötzendorf, auf den Entscheidungsebenen wie auch die medial präparierte Mentalitätslenkung ganzer Nationen.

Im Schlussteil widmet er sich einem Thema, der Geopolitik, dem der Ruch des Imperialen anhängt. Er denkt Geopolitik allerdings anders, und zwar im Zusammenhang mit neuen Raumvorstellungen und hybriden Kriegen. Die neuen Kriege sind keine Auseinandersetzungen mehr um Territorien, um Landgewinn, um veränderte Grenzziehungen (die Okkupation der Krim durch Russland stuft Münkler als letztes, ökonomisch mittelfristig verheerendes Aufbäumen ein).

Die neuen Kriege spielen sich, wenn überhaupt, an der europäischen Peripherie ab. Sie sind nun fluid, also flüssig und verflüssigt: Ströme des Kapitals, der Informationen und der medialen Bilder im digitalen "Raum", der ein abstrahierter ist. Die globale Raumbeherrschung wird laut Münkler umgestellt von Grenzkontrolle auf Strömelenkung. Die Folgen: Staaten- und Bürgerkrieg verschwimmen, die früher abgezirkelten Aggregatzustände Krieg und Frieden mutieren zu einer "Verpolizeilichung des Militärs". Und zwar in Permanenz.

Auch wenn Münkler vor allem gegen Ende in einen arg akademisch manierierten Stil verfällt – Satzperioden, die kein Ende nehmen wollen, voller Substantivierungen -, so ist dieser Band eine fulminante, hochintelligente Analyse der Gegenwart auf hohem Reflexionsniveau. Die Gegenwart ist ohne umfassendes Wissen der Historie nicht zu denken; und ebendies lässt das derzeit so akute Manko der sklerotischen Außen- und Sicherheitspolitik der EU deutlich werden: die tiefgehende Geschichtsvergessenheit in Europa um weit zurückreichende Zusammenhänge. "Die Probleme", so Münkler, "die im Sommer 1914 die vielen Konflikte in Europa akut werden ließen und den Krieg auslösten, sind ein Jahrhundert später keineswegs verschwunden. Es werden die aus dem Ersten Weltkrieg hervorgegangenen postimperialen Räume sein, die die Europäer in den nächsten Jahrzehnten politisch beschäftigen werden." Münklers "Kriegssplitter" dürfte für die Politik und alle an Politik Interessierten obligatorisch werden. (Alexander Kluy, 21.11.2015)