Adrian Eröd singt in Humperndincks "Hänsel und Gretel" die Rolle des Vaters. Dirigiert wird die Staatsopernpremiere am Donnerstag von Christian Thielemann.


Foto: Nikolaus Karlinsky

STANDARD: Die Wiener Staatsoper ist ein Repertoiretheater mit einem deutlichen Bewusstsein, was man der Geschichte schuldig ist. Was ist denn für Sie nach wie vor das Spannende an Ihrer Arbeit für dieses Haus?

Eröd: Für mich ist es inzwischen anders spannend, weil ich nicht mehr festes Ensemblemitglied bin. Es hat sich im Sängeralltag einiges verändert. Aber die Herausforderung, dass hier jeden Abend etwas stattfinden muss, ist geblieben. Das Schöne ist, dass man hier innerhalb von kürzester Zeit so Vielfältiges bekommen kann. Und ich denke, das funktioniert unglaublich gut. Die Arbeit wird hier nie zur Routine. Dadurch bleibt man wach und aufmerksam – hoffentlich.

STANDARD: Kann Routine nicht auch ein positiver Begriff sein?

Eröd: Natürlich: Die Fragen, wann man im Haus sein muss, in die Maske geht, sich einsingt, in die Bühnenspannung kommt und wieder loslassen kann, welche Partie welche Vorbereitung erfordert – das sind die Sachen, wo Routine im Sinne von Erfahrung schon sehr hilfreich ist. Aber gerade darin, dass wir Repertoirevorstellungen nicht allzu viel proben, liegt auch ein Vorteil: Wenn man sechs Wochen für eine Premiere probt und alle Feinheiten erarbeitet, ist das natürlich toll. Beim Repertoire ist es so, dass die Feinheiten einfach geschehen, man auf den anderen reagiert, weil nicht alles schon abgezirkelt ist. Das kann auch sehr spannend und – pathetisch gesagt – erhebend sein.

STANDARD: Stichwort Bühnenspannung: Haben Sie dafür bestimmte Mittel der Autosuggestion?

Eröd: Eigentlich nicht. Das ist sicher ein Teil Erfahrung und ein Teil Grundeinstellung. Wenn ich auf die Bühne gehe, ist es nicht so, dass ich mich in die Figur versenkt habe und ein anderer bin, sondern ich bin trotzdem ich. Die Fähigkeit, eine Figur zu zeigen und gleichzeitig zu singen, erfordert viel Kontrolle über den Körper. Sich da vollkommen zu verlieren würde für mich gar nicht funktionieren. Was spontan wirkt, ist im Grunde genommen unser Handwerk: Es so scheinen zu lassen, als ob es im Moment entsteht. Und zugleich offen zu sein für das, was gerade auf der Bühne geschieht.

STANDARD: Gehört es auch zum Handwerk, Charaktere so zu entwickeln, dass sie mehr als eine Dimension haben? Sie scheinen Figuren gerne mit verschiedenen, oft sogar konträren Eigenschaften auszustatten, etwa den Beckmesser ("Meistersinger") oder den Faninal ("Rosenkavalier") – Personen, die sonst oft eher schwarz-weiß gezeichnet werden.

Eröd: Wir haben ja das Glück, dass wir diese Meisterwerke spielen dürfen. Es gibt wahrscheinlich kein Meisterwerk, das "einfach" ist – von den Dimensionen und den Figuren, die darin vorkommen, außer das ist gewollt, etwa in der Commedia dell'arte. Aber es gibt keine Oper von Mozart, Wagner oder Strauss, wo Figuren nur eine Dimension haben. Selbst wenn jemand ganz böse ist, ist es für mich interessant zu zeigen, warum der so geworden ist. Daher kann man eigentlich jedes Mal eine neue Facette entdecken.

STANDARD: Ist das auch beim Vater in "Hänsel und Gretel" der Fall?

Eröd: Das Interessante ist, dass Vater und Mutter zwar Archetypen sind, aber gleichzeitig relativ genau gezeichnet sind, und zwar nicht nur, während sie auf der Bühne sind, sondern auch wenn die Kinder im Lauf des Stücks über ihre Eltern reden. Der Vater ist am Anfang nur lustig und besoffen; er ist aber auch derjenige, der den Kindern den Glauben vermittelt hat, der ihnen das positive Denken vermittelt hat, das die Kinder auch im Wald durchhalten lässt. Es gibt auch beim Vater einen großen Stimmungsumbruch, als er plötzlich die Gefahr erkennt und Angst um seine Kinder bekommt. Alles, was er erzählt, wird musikalisch genau geschildert.

STANDARD: Sie wirken beim Erzählen ziemlich emotional. Nutzen Sie bei der Darstellung auch eine persönliche Resonanz?

Eröd: Ja, schon. Wenn ich auf die Bühne gehe, möchte ich meine Figur für das Publikum überzeugend machen und will, dass das Publikum diese Figur so weit wie möglich nachvollziehen kann. Selbst wenn das nicht ich bin, spielen natürlich Aspekte der Charaktere eine Rolle, die ich auch auf die eine oder andere Weise kenne. Das ist vielleicht etwas, das mich emotional werden lässt, indem ich versuche, nachzuvollziehen, warum jemand in einer bestimmten Weise handelt oder innerlich bewegt ist. (Daniel Ender, 18.11.2015)