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Diese Erkenntnis war ein großer Schock: Mit Geldpolitik kann man keine Inflation schaffen.

Foto: AP/Roessler

STANDARD: Notenbanken setzen Zinsen auf null und kaufen in großem Stil Staatsanleihen? Ist das nicht alles ein großes Experiment?

Mihov: Die Geldpolitik reagiert darauf, was in der Realwirtschaft passiert. Was die US-Notenbank Fed 2008 gemacht hat, war entscheidend, um eine globale Depression zu verhindern. Man kann es Experiment nennen, aber ohne wären wir in einer viel schlechteren Lage.

STANDARD: Aber wichtige Ziele, wie die Erhöhung der Inflation, wurden nicht erreicht.

Mihov: Damals ist jeder davon ausgegangen, dass Geldpolitik die Teuerung bestimmt, also kann man jederzeit Inflation schaffen. Das ist aber nicht passiert. Diese Erkenntnis war ein großer Schock: Mit Geldpolitik kann man keine Inflation schaffen. Die Lehrmeinung muss überdacht werden.

STANDARD: Ist der Grund, dass die Liquidität nur im Finanzsystem zirkuliert?

Mihov: Genau, das Geld hat keinen Weg in die Realwirtschaft gefunden, es ist bei den Banken hängengeblieben. Sie haben dabei versagt, die Liquidität an die Wirtschaft weiterzugeben.

STANDARD: Warum vergeben die Banken kaum Kredite?

Mihov: Entweder die Banken glauben nicht daran, dass die Wirtschaft wachsen wird. Oder die Wirtschaft würde wachsen, kann aber nicht, weil die Banken so überreguliert sind, dass sie der Wirtschaft nicht mehr Geld leihen können. Das herauszufinden ist eine der wichtigsten Aufgaben.

STANDARD: Gibt es überhaupt einen Ausweg aus der Nullzinspolitik? Japan scheitert seit Jahrzehnten daran.

Mihov: Ich bin sicher, dass es einen Ausweg gibt. Die USA werden die Ersten sein, die das beenden. Wenn man die US-Konjunktur ansieht, läuft sicher nicht alles wunschgemäß, aber die Wirtschaft bewegt sich mehr oder weniger Richtung Erholung. Wir sehen eine gesunde Entwicklung am Arbeitsmarkt, und für Dezember wird eine Zinserhöhung erwartet. Meiner Meinung nach wird es nächstes Jahr noch mehrere davon geben.

STANDARD: Wo wird der US-Leitzins Ende nächsten Jahres stehen?

Mihov: Schwierige Frage, sagen wir so: Mich würde nicht überraschen, wenn er zwischen einem und eineinhalb Prozent stehen wird.

STANDARD: Also einige kleine Schritte und dabei schauen, was passiert?

Mihov: Die Wirtschaft hat lange Beine. Bis eine Zinsänderung wirkt, dauert es 18 bis 24 Monate. Die Fed erhöht Zinsen, weil sie erwartet, dass Wirtschaftswachstum, Lohndruck und Inflation ansteigen, und so weiter. Wenn sich dieser Prozess beschleunigt, werden die Zinsen schneller angehoben. Aber noch überwiegt die Befürchtung, dass die Erholung abgewürgt werden könnte.

STANDARD: Ist die US-Wirtschaft überhaupt noch in einer Erholung? Der Tiefpunkt war nach der Finanzkrise im Jahr 2009 – ist also schon lange her.

Mihov: Normalerweise dauert ein Wirtschaftszyklus in den USA zwischen fünf und acht Jahren. Die Erholung hat 2009 gestartet, damit sind wir im siebenten Jahr. Aber diesen Zyklus kann man mit anderen nicht vergleichen. Ich glaube daher schon, dass sich die Wirtschaft in einer Erholung und nicht am Ende des Zyklus befindet.

STANDARD: Machen wir einen großen Sprung über den Atlantik. EZB-Chef Mario Draghi denkt über eine Ausweitung seines Anleihenkaufprogramms nach. Wird das passieren?

Mihov: Ich denke schon. Die Bilanzsumme der Fed ist auf das Fünffache explodiert, und jene der EZB ist nach einem gewissen Auf und Ab erst zweimal so hoch wie vor der Krise. Das ist noch weit von dem entfernt, was die Fed gemacht hat.

STANDARD: Wie lange wird es dauern, bis die EZB über Zinserhöhungen überhaupt nur nachdenken kann?

Mihov: Das ist schwer zu sagen, weil es so viele Unsicherheiten gibt – inklusive der Flüchtlingskrise. Aber wenn man auf historische Muster blickt, haben sich europäische immer ein bis zwei Jahre nach den US-Banken erholt. Also vor 2017 oder 2018 kann ich es mir nicht vorstellen.

STANDARD: Sie haben die Flüchtlingskrise erwähnt. Wie schätzen Sie ihre mittel- bis langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen ein?

Mihov: Dazu gibt es viele Untersuchungen, und bei den meisten kommt heraus, dass der Gesamteffekt nahe null liegt. Die positiven und die negativen Auswirkungen heben sich gegenseitig auf. Aber das hängt auch davon ab, wie man mit dieser Situation umgeht. Wenn die Leute integriert werden können, wäre das großartig. Junge Leute mit Arbeit treiben das Wachstum nach oben. Aber zunächst überwiegen die Nachteile. Oft sind die Arbeitskräfte noch nicht gut ausgebildet und finden nur schwer Jobs. Die Arbeitslosigkeit in den bildungsschwächeren Sektoren des Arbeitsmarkts wird sich erhöhen.

STANDARD: Aber es werden ja auch Jobs geschaffen. Jemand muss sich um die Menschen kümmern, sie ausbilden und Wohnraum schaffen.

Mihov: Aber es stellt sich die Frage, wie das bezahlt werden soll.

STANDARD: Üblicherweise bevorzugen Politiker Schulden.

Mihov: Das ist aber nur möglich, wenn man die Schulden noch erhöhen kann. Wenn das funktioniert, bezahlen die Flüchtlinge dieses Defizit durch zukünftiges Wachstum gewissermaßen selbst wieder zurück – so lautet zumindest die Hoffnung. Aber wenn die Schulden dafür schon zu hoch sind, muss man das Geld natürlich irgendwo anders einsparen.

STANDARD: Macht es Sinn, die Maastricht-Kriterien wegen der Flüchtlingskrise vorübergehend aufzuweichen?

Mihov: Ja, die Grenze soll aufgehoben werden – aber es muss auch sichergestellt werden, dass die Politiker das Geld für den richtigen Zweck ausgeben. Während einer Krise – egal ob die Eurokrise oder jetzt die Flüchtlingskrise – macht das dreiprozentige Limit für die Neuverschuldung keinen Sinn. Aber das Problem ist, dass die wenigsten Länder während guter Zeiten entsprechende Überschüsse erwirtschaften. Politiker geben das Geld dann lieber aus, um ihre politischen Agenden umzusetzen.

STANDARD: Sind die Maastricht-Kriterien hinsichtlich ihrer Konzeption nicht grundsätzlich viel zu starr?

Mihov: Ich denke, dass diese Regeln viel flexibler werden müssen. Denn die Fiskalpolitik ist genauso wichtig wie die Geldpolitik, um eine Wirtschaft zu lenken. (Alexander Hahn, 25.11.2015)