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Anonymous und seine Verbündeten gehen gegen Online-Propaganda des IS vor und infiltrieren Jihadisten-Foren.

Seit knapp einem Jahr ist der 25-jährige John Chase im Kampf gegen die Terrororganisation "Islamischer Staat" (IS) aktiv. Seine Waffe ist allerdings kein Gewehr, sondern sein Computer. Als selbstgelernter Programmierer und Medienstratege hilft er anderen "Hacktivisten", ihre Anstrengungen zu bündeln. Der Anschlag auf die Redaktion von "Charlie Hebdo" und die hämischen Botschaften der Jihadisten auf Twitter waren für ihn der Wendepunkt.

Er war daran beteiligt, eine Datenbank mit 26.000 Twitter-Accounts in Verbindung mit dem IS zu erstellen und auf einer Website zugänglich zu machen. Unter dem Pseudonym "XRSone" gab er bereitwillig Medien Auskunft und wurde dabei sogar eine Zeitlang als eine Art Sprecher der Anonymous-Bewegung gesehen, als diese die Operation "#OpISIS" ins Leben rief.

Das Hackerkollektiv setzt sich aus Mitgliedern aus der ganzen Welt und mit verschiedensten sozialen Hintergründen zusammen. Mit massiven Rekrutierungsanstrengungen und Propaganda drangen die Terroristen plötzlich in ihre Sphäre, das Internet, ein. Seitdem tobt die Auseinandersetzung – sichtbar in den sozialen Medien und fernab öffentlicher Wahrnehmung im Deepweb. "Foreign Policy" gibt einen Einblick in die Auseinandersetzung.

Die nächste Stufe

Verlässliche Zahlen gibt es nicht. Nach Angaben von Anonymous-Mitgliedern wurden in den vergangenen neun Monaten knapp 150 dem IS zugeordnete Webseiten zu Fall gebracht sowie 101.000 Twitter-Konten und 5.900 Propagandavideos durch konzertiertes Vorgehen gemeldet.

Für Anonymous ist dieses Engagement eine weitere Stufe der Entwicklung. Starteten die Aktivisten ursprünglich etwa Angriffe auf Scientology, um gegen die Unterdrückung eines peinlichen Videos von Promimitglied Tom Cruise zu protestieren, stellt man sich nun klar hinter politische Anliegen. 2010 nahm man den Zahlungsdienstleister Paypal ins Visier, als dieser Spenden für Wikileaks nicht mehr weiterleitete. Man unterstützte unter anderem Occupy Wall Street, aufbegehrende Bürger im "Arabischen Frühling" und die Demokratieaktivisten in Hongkong. Zurzeit hat man es auch auf den Ku Klux Klan abgesehen und enttarnt dessen Mitglieder.

Weil Anonymous für das Internet als unzensurierte Meinungsplattform steht, stellt sich natürlich die Frage, mit welcher Legitimation man nun gegen den "Islamischen Staat" vorgeht. Eine Frage, die sich für viele einfach beantworten lässt. So schreibt ein Mitglied auf Reddit: "Einer Gruppe die Meinungsfreiheit wegzunehmen, die für das Ende der Meinungsfreiheit eintritt, ist ein köstlicher Spaß." Auch auf die jüngsten Anschläge in Paris hat man reagiert und dem IS in einem Video einmal mehr den Krieg erklärt.

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Funktionales Chaos

Klassische Anführer haben die Hacktivisten nicht, sie pflegen eine flache und lose Organisationsstruktur. Es gibt jedoch einen Kern an erfahrenen Mitgliedern, die die alltäglichen Operationen am Laufen halten und das Vorgehen vieler anderer koordinieren. Dabei herrscht Arbeitsteilung in Form von funktionalem Chaos.

Der Hacker "CtrlSec", der auch das Pseudonym "Mikro" nutzt, betreut etwa Twitter-Accounts, die in regelmäßigen Abständen jeweils drei Konten des sozialen Netzwerks nennen, die in Verbindung mit dem IS stehen. Andere nutzen diese Information, um besagte User in kurzer Zeit massenhaft zu melden und sie in der Moderationsliste von Twitter nach oben zu spülen.

Auch Twitter selbst, wo man ein Selbstverständnis als Werkzeug für Unterdrückte und Stimmlose pflegt, hat die Zügel angezogen. Trotzdem blieb die Präsenz des IS massiv. Zwischen September und Dezember 2014 sollen 46.000 bis 70.000 Accounts von IS-Anhängern genutzt worden sein. Reaktionen wie die Sperrung von 10.000 Konten im vergangenen April erhöhen dennoch den Aufwand für die Terrormiliz.

"Der IS hasst Rock 'n' Roll"

Anonymous und Co versuchen dabei nicht nur, IS-Konten zu hacken oder zu melden, sondern auch der Propaganda der Jihadisten etwas entgegenzusetzen. Etwa indem man Hashtags kapert und mit Beleidigungen, obszönen Fotos und Witzen über das Sexualleben der islamistischen Kämpfer flutet.

"Der IS hasst Rock 'n' Roll und Ärsche", erklärt dazu ein IS-Gegner mit dem Twitter-Namen @MadSci3nti5t. "Stellt sie euch vor wie ein überreligiöses Familienmitglied, das sich angegriffen fühlt, wenn man das Wort 'Arsch' auf einer Familienfeier sagt."

IS ändert Social-Media-Strategie

Im Lauf der Zeit hat sich aber auch der IS in diesem Bereich professionalisiert. Wo man in der Vergangenheit teilweise noch einzelne Kämpfer auf Twitter kontaktieren konnte, werden die meisten Online-Präsenzen mittlerweile von Medienprofis betreut. Dazu vermuten die Hacktivisten, dass viele Konten gar nicht mehr direkt aus Syrien oder dem Irak gesteuert werden, sondern von externen Unterstützern fernab der Frontlinie.

Unterstützer haben die Terroristen dabei rund um die Welt. Auch in Österreich lebende Twitter-Mitglieder haben in der Vergangenheit bereits die Expansionspläne des IS öffentlich beklatscht und sich positiv zu Anschlägen geäußert.

Professionalisierung

Eine Gruppe namens GhostSec, bestehend aus einstigen Anonymous-Mitgliedern und unabhängigen Hackern, geht nun den Schritt in Richtung Professionalisierung. Nach eigenen Angaben besteht sie aus einem kleinen Zirkel an Leuten, die sich jeden Tag 16 Stunden lang dem Kampf gegen den IS im "offenen" Netz und dem Deepweb widmen und von vielen Helfern unterstützt werden, die sich nebenbei für das Anliegen einsetzen.

Bevor man versucht, eine mutmaßliche IS-Seite anzugreifen, pflegt man sogar einen Review-Prozess. Wenigstens fünf Mitglieder müssen sich die Präsenz ansehen und nach ihrem Gefahrenlevel einstufen. Oft gehört zu den Prüfern auch ein Mitglied mit arabischer Muttersprache. Ganz oben auf der Abschussliste stehen Webauftritte, die dem IS als Anlaufstelle für potenzielle neue Mitglieder dienen.

Ist ein Ziel genehmigt, sucht man nach Sicherheitslücken, um sich Zugriff zu verschaffen, und greift die Server mit sogenannten DDoS-Attacken an. Dabei werden diese von zahlreichen Computern massenhaft mit Anfragen beschickt, um in die Knie gebracht zu werden. GhostSec hat, so erklärt man, eigene Infrastruktur für derlei Aktionen. Es sei aber auch möglich, etwa auf dem russischen Schwarzmarkt die Kapazitäten von Botnetzen zu mieten. Die Kosten dafür seien geringer als die Ressourcen, die der IS aufwenden muss, um seine Seiten weiter am Laufen zu halten.

Hand in Hand mit Sicherheitsbehörden

GhostSec hat mittlerweile auch indirekte Verbindungen zu offiziellen Stellen. Informationen, die man etwa durch das Unterwandern von Internetforen bekommt, gibt man an vertrauenswürdige Dritte wie Michael Smith weiter. Dieser leitet das operative Geschäft bei der Sicherheitsberatungsfirma Kronos. Er sichtet das Material und leitet es gegebenenfalls an Geheimdienstkreise weiter.

Die Quote der von ihm als wertvoll eingestuften Hinweise liegt bei 90 Prozent. Die Arbeit der Hacker spielt dabei auch abseits des Internets eine gewichtige Rolle. So sollen sie eine wichtige Rolle gespielt haben, als Sicherheitskräfte einen für 4. Juli geplanten Anschlag in Tunesien vereiteln konnten.

Dass Hacktivisten und Behörden zusammenarbeiten, darf als ungewöhnlich angesehen werden – üblicherweise sind sie in vielen Fragen Gegner, etwa wenn es um das Thema Überwachung geht. GhostSec, gestartet als stärker organisierte Gruppe zur Bekämpfung des IS, könnte die erste professionelle Sicherheitsagentur werden, die aus der Hacktivisten-Szene hervor geht.

Flagge zeigen

Klar ist allerdings, dass Anonymous, GhostSec und ihre Verbündeten alleine den Islamischen Staat nicht stoppen können. Gesperrte Twitterkonten und aus dem Netz gedrängte Webseiten erscheinen als unbedeutende Errungenschaft, wenn währenddessen jihadistische Kämpfer in Städte einmarschieren, Menschen hinrichten oder wertvolle Kulturstätten zerstören.

Doch dieser Kampf ermöglichst es Menschen, sich einem Ziel zu verschreiben und sich selbst zu beweisen. Es geht darum, Flagge zu zeigen und eine Leere zu füllen, die dem IS ermöglicht hatte, sein Kalifat auch in der Onlinesphäre zu etablieren. (gpi, 16.11.2015)