In seinem Buch "How Propaganda Works" untersucht Jason Stanley, wie Propaganda, bei der die Verbindung von Gefühlen, Bildern und Wörtern eine gewichtige Rolle spielt, in liberalen Staaten funktioniert.

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STANDARD: Haben Sie ein aktuelles Beispiel für Propaganda in den USA oder in Europa?

Stanley: Nehmen wir die FPÖ. Sie nennen sich "freiheitlich" und benutzen so ein Ideal gegen das Ideal, indem sie den Begriff "Freiheit" etwa gegen religiöse Freiheit benutzen. Das ist ein klassisches Beispiel dafür, wie Propaganda in liberalen Staaten funktioniert. In den USA läuft alles unter "Freiheit", egal was. "Religiöse Freiheit" wird zum Beispiel eingesetzt, um gegen die gleichgeschlechtliche Ehe zu kämpfen. Oder Marine Le Pen, die immer sagt, Frankreich steht für Freiheit – und im gleichen Atemzug: Wir müssen die Grenzen zumachen.

STANDARD: Also eignen sich Begriffe, die für große Ideale stehen, besonders für politische Propaganda?

Stanley: Alle klugen Propagandisten empfehlen, solche Begriffe zu nutzen. Freiheit wird vielleicht am intensivsten eingesetzt. Aber auch Patriotismus, denken wir an den Patriot Act in den USA– der zwar gegen unsere Verfassung ist, aber er gilt als "patriotisch". Viele Politiker versuchen bestimmte Wörter in die Debatten zu bringen, die Verbindungen mit verbotenen Ideologien haben – aber die noch immer populär sind. Zum Beispiel wird Ostküstenamerikaner als Ausdruck für Juden benutzt. Man kann zwar nicht sagen, die Juden sind dieser oder jener Meinung, dafür aber "die Ostküstenamerikaner sagen …". In der Politik stellt man sich die Frage, wie man einen Wahlkampf gewinnen kann, und die Antwort lautet für viele: indem man mit bestimmten Mitteln zeigt, dass man verbotenen Ideologien gar nicht so feindlich gegenübersteht.

STANDARD: Sie beginnen Ihr aktuelles Buch "How Propaganda Works" mit Viktor Klemperer und seiner Arbeit aus dem Jahr 1947 über die Sprache des Dritten Reiches, die in Deutschland und Österreich breit rezipiert wurde. Trotzdem scheint die Anwendung auf aktuelle Kontexte nicht gut zu funktionieren, oder?

Stanley: Nein, deshalb war es mir auch wichtig zu zeigen, dass das alles weit über die Sprache der Nazis hinausgeht. Aber in anderen Ländern ist der Sinn für Propaganda noch schlechter. Dort meint man, die Entnazifizierung hätte nichts mit Sprache zu tun gehabt, sondern mit Meinungen. Klemperer macht aber in "Lingua Tertii Imperii" klar, dass der Prozess der Entnazifizierung durch die Sprache passieren sollte – durch sie wurde versucht, die Meinungen zu ändern.

STANDARD: Kann man Propaganda definieren, oder ist es ein zu flexibles Konzept für eine Definition?

Stanley: Es gibt die Definition, dass Propaganda eine Debatte beendet und alle Meinungen vereinheitlicht und hinter einem Ziel zusammenbringt. Nehmen wir "Staatsfeinde": Wenn jemand so bezeichnet wird, ist es mit der vorgebrachten Kritik oder einem Diskussionsanstoß sofort vorbei. Ich bin aber mit der Definition nicht ganz zufrieden. Sie passt zwar gut für die Analyse des Nationalsozialismus, aber es gibt sehr viel Propaganda in liberalen, demokratischen Gesellschaften. Deshalb brauchen wir eine allgemeinere Definition, denn diese Propaganda ist subtiler – wir sprechen ja nicht mehr wie Hitler. Es gibt völlig legitimierte Wege, eine Debatte zu beenden, die weniger extrem sind. Es gibt auch eine allgemeinere Definition, die ich aber wiederum für zu allgemein halte: Propaganda nutzt Wörter, die emotionale Verbindungen haben und bestimmte Perspektiven durch eine nicht rationale Weise ausschließen.

STANDARD: Warum ist auch diese Definition nicht optimal?

Stanley: Weil da extrem viele Wörter darunterfallen. Fräulein benutzen wir etwa wegen der Verbindung von Frau und Schwäche nicht mehr – das wäre nach dieser Definition auch schon Propaganda. Oder "Mutter" ist eigentlich auch schon Propaganda, weil das Wort die Assoziationen transportiert: "Das ist der Elternteil, der besser mit Kindern umgeht." Diese Definition ist zu allgemein, weil fast jedes Wort bestimmte Assoziationen hervorruft.

STANDARD: Wie definieren Sie Propaganda?

Stanley: Propaganda ist entweder unterminierende oder unterstützende Propaganda. Unterminierende Propaganda benutzt ein Ideal zu dem Zweck, dieses Ideal zu zerstören. Unterstützende Propaganda benutzt ein Ideal, um dieses in einer nicht rationalen Art und Weise zu transportieren. Indem man etwa österreichischen Patriotismus mit Bildern von Bergen in Verbindung bringt. Daran sehen wir, wie propagandistisch bestimmte Wörter und Bilder sein können. Manche Wörter haben emotionale Verbindungen, "Heimatland", "Vaterland", "deutsche Mutter" …

STANDARD: Begriffe, die viele nicht mehr verwenden.

Stanley: Genau, das ist toll im deutschsprachigen Raum: Die Leute verstehen, dass Wörter gefährlich sein können. Die Amerikaner verstehen das nicht. Wir haben zwar diese Wörter, aber wir hatten nicht diese Geschichte.

STANDARD: Sie haben aber zu Bedenken gegeben, dass in Deutschland oder Österreich auch viele glauben, mit der Entnazifizierung wurde alles erledigt und man heute weniger wachsam ist.

Stanley: Ja, Politiker suchen immer nach Wörtern, die populäre Verbindungen haben – Verbindungen zu Ideologien, die gefährlich sind. Nehmen wir verschiedenste Verbindungen zu Sexismus, etwa indem man über traditionelle Werte spricht. Damit kriegt man sehr viele Menschen. Offen sexistisch sollte man hingegen aber nicht sein. Die Gefahr der schwindenden Wachsamkeit ist da, dass man sich einfach sagt: Hier sind die Nazibegriffe, wir sind fertig. Und alle anderen Wörter sind okay. Aber kein Wort ist okay. Wir sprechen nicht mit einer logischen Symbolik, alle Wörter haben Verbindungen. Und Politik heißt, diese Verbindungen zu nutzen.

STANDARD: In welchem Verhältnis steht Propaganda zu Populismus?

Stanley: Dazu müssen wir "Ideologie" genauer betrachten. Propaganda funktioniert nur auf Basis von problematischen Ideologien. Viele Menschen sind sexistisch, sie wissen aber, dass sie es nicht sein sollten. Sie denken vielleicht auch gar nicht, dass sie glauben, Frauen gehören in die Küche. Aber wenn jemand etwas vorschlägt, das nicht direkt sexistisch ist, aber durchaus eine sexistische Zielsetzung hat, dann ist das für viele attraktiv. Wir haben diese Ideologien, und diese Ideologien verstärken die unterminierende Propaganda.

STANDARD: Das heißt, differenzierte Positionen in der Politik haben eigentliche keine Chance?

Stanley: Propaganda nutzt emotionale Verbindungen durch Wörter oder Bilder. Zwar können Emotionen auch rational sein, aber Propaganda nutzt ja Gefühle, um Debatten zum Stillstand zu bringen, oder um Perspektiven zu verdrängen, die in liberalen Demokratien sehr wohl debattiert werden sollten. Wenn man alle Perspektiven einbezieht, dann ist es nun mal kompliziert. Es ist einfach, wenn "Effizienz" nur aus der Perspektive von Unternehmen betrachtet wird. Schwieriger wird es, wenn wir fragen, was diese Effizienz für einen arbeitslosen Griechen bedeutet.

STANDARD: Rechtspopulistische Parteien arbeiten ständig mit Vereinfachungen. Manche fordern, dass die Linke auch populistischer werden muss, um Erfolg zu haben.

Stanley: Ich glaube, es gibt gute Propaganda, wenn man ein schlechtes Ideal angreift. In liberal-demokratischen Gesellschaften sollte allen Perspektiven gleich viel Respekt entgegengebracht werden. Doch Leute mit Macht und Geld versuchen, ihre Perspektiven zu verbreiten und andere zu überblenden. Nehmen wir etwa Gentrifizierung: Einige freuen sich, dass in einem Stadtteil höhere Mieten verlangt werden können, wenn er als aufgewertet gilt. Aber die Perspektive derer, die deshalb wegziehen mussten, fehlt. Wir brauchen also eine Methode, unsichtbare Perspektiven sichtbar zu machen. Das funktioniert aber nicht mit instrumentaler Rationalität. Ich kann kein Argument liefern, dass eine bestimmte Perspektive berücksichtigt werden sollte, die für jemanden einfach nicht da ist. Man muss diese Perspektive zeigen. Kunst, Musik oder Film machen genau das. Für uns, obwohl – ich bin jetzt Yale-Professor und kann nicht mehr "uns" benutzen –, also für die Leute, die nicht an der Macht sind, ist Kunst ihre Form von Propaganda.

STANDARD: Propaganda hängt eng an der Auswahl bestimmter Begriffe. Doch Kritik an einzelnen Begriffen wird oft als übertriebene "Political Correctness" empfunden.

Stanley: Political Correctness ist ein gefährlicher Ausdruck, den nur Konservative benutzen. Und sie benutzen es für ideologische Zwecke. Niemand will eine exzessive Menge von sprachlichen Regelungen. "Political Correctness" wird nur benutzt, um andere Positionen schlecht dastehen zu lassen. In deutschsprachigen Ländern weiß man, dass bestimmte Wörter nicht mehr benutzt werden können – wie etwa "Endlösung", "Heldentum" oder "Endsieg". Wenn man im deutschsprachigen Raum bei kritischem Hinterfragen von Wörtern über Political Correctness spricht, ist man der Geschichte gegenüber ignorant. (Beate Hausbichler, 19.11.2015)