Bild nicht mehr verfügbar.

Vertriebene Sudetendeutsche 1945 (oben), Flüchtlinge an der österreichisch-deutschen Grenze 2015 (unten). Massenmigration hat vielfältige Ursachen. Was sich gleicht, sind die Bilder von der Hilflosigkeit der Menschen.

Foto: S.M. / SZ-Photo / picturedesk.com

Bild nicht mehr verfügbar.

Foto: APA / Sebastian Kahnert

Historiker Niklas Perzi: "Österreich wollte 1945 Grenzsperren."

Foto: Gerald Schubert

STANDARD: Sie sind im Waldviertel aufgewachsen, an der tschechischen Grenze. Stammt Ihr Interesse für die österreichisch-tschechische Geschichte aus Ihrer Kindheit?

Perzi: Von der Grenze war ich schon als kleiner Bub fasziniert. Den Eisernen Vorhang habe ich aber fast nie zu Gesicht bekommen, er verlief ja zwei oder drei Kilometer weiter hinten, auf tschechoslowakischem Gebiet. Man hat nur Wald, Wiesen und ein paar Grenzsteine gesehen, obwohl der Streifen natürlich von tschechoslowakischen Grenzsoldaten bewacht wurde. In der Nacht sind wir trotzdem manchmal ein paar Meter hinübergegangen – als Mutprobe. Das war streng verboten. Im Dorf und in der Familie wurde die Grenze entweder tabuisiert oder mit Schrecken thematisiert. Für mich aber war die andere Seite immer eine Art Sehnsuchtsort – auch, wenn man in Sehnsuchtsorte bekanntlich vieles projiziert, das mit der Realität nichts zu tun hat.

STANDARD: Heute sind Sie Mitglied der bilateralen Historikerkommission, die ein gemeinsames österreichisch-tschechisches Geschichtsbuch erarbeitet. Was ist der Grundgedanke?

Perzi: Wir wollen kein neues Meisternarrativ schaffen, keine offizielle Version, die dann die gültige Lehrmeinung ist. Es wird ein pluralistisches Geschichtsbuch sein. An den einzelnen Kapiteln arbeiten jeweils Teams aus österreichischen und tschechischen Historikern, die gerade die unterschiedlichen Sichtweisen einbringen und Stereotype hinterfragen sollen.

STANDARD: Die Zerschlagung der Tschechoslowakei durch die Nationalsozialisten und die anschließende Vertreibung der Sudetendeutschen werden von Politikern beider Seiten immer wieder instrumentalisiert. Warum funktioniert das auch heute noch?

Perzi: Österreich und das damalige Protektorat Böhmen und Mähren erlebten die Eingliederung ins sogenannte Dritte Reich sehr unterschiedlich. 1945 aber gab es bald eine bemerkenswert große Übereinstimmung, und zwar bei der sogenannten "Entdeutschung". Während die Deutschen aus der Tschechoslowakei vertrieben wurden, gab es auch hierzulande das Projekt der "Entdeutschung", der Geburt der österreichischen Nation. Deshalb hat man die nach Österreich Vertriebenen so rasch wie möglich nach Westdeutschland weitertransportiert. Die Politik des Weiterschickens von Menschen nach Deutschland wurde also schon damals praktiziert. Mehr als 80.000 wurden etwa über das Sammellager Melk in das besetzte Deutschland ausgesiedelt.

STANDARD: Dabei waren die meisten Sudetendeutschen, beziehungsweise ihre Vorfahren, früher deutschsprachige Bürger der österreichisch-ungarischen Monarchie.

Perzi: Genau das ist das Interessante. Die sudetendeutsche Identitätsbildung hat eigentlich erst mit der Gründung der Tschechoslowakei 1918 massiv eingesetzt. In der Zwischenkriegszeit hat sich Österreich kaum für die Sudetendeutschen interessiert. Nach 1945 haben österreichische Politiker in ihnen dann die Totengräber der Tschechoslowakei gesehen, analog zu den illegalen Nazis bei uns. Das Motto war: Wir haben schon genug Probleme mit unseren eigenen Nazis, jetzt brauchen wir nicht auch noch die aus der wiedererrichteten Tschechoslowakei – ungeachtet dessen, dass viele Sudetendeutsche natürlich überhaupt keine Nazis waren.

STANDARD: Welche Strategie verfolgte Österreich konkret?

Perzi: Die erste Nachkriegsregierung Renner forderte die Alliierten, die damals das Kommando hatten, dazu auf, Grenzsperren zu errichten. Österreich selbst hatte ja keine eigene Grenzsicherung. Auch an die Tschechen appellierte man dringend, die Abschiebungen einzustellen. Dafür gab es auch einen ganz pragmatischen Grund: Österreich lag am Boden, und bei einer Einwohnerzahl von sechs Millionen gab es 1,6 Millionen Nichtstaatsbürger, sogenannte "displaced persons". Selbst in den kleinsten Grenzdörfern haben hunderte Menschen sämtliche Stadel und Bauernhöfe belegt. Es war ein großes Problem, sie zu versorgen. Die Situation ist mit heute nicht zu vergleichen – außer in der Vorgangsweise.

STANDARD: Zur Zeit des Eisernen Vorhangs gab es auf beiden Seiten der Grenze auch Landflucht und Binnenmigration. Lassen sich bei diesen parallelen Entwicklungen auch Unterschiede zwischen Österreich und der damaligen kommunistischen Tschechoslowakei festmachen?

Perzi: In den 1950er-Jahren sind in Österreich Knechte und Taglöhner langsam verschwunden – sie wurden durch Traktoren und Maschinen ersetzt. Im nördlichen Waldviertel fanden einige in der Textilindustrie Aufnahme, andere wanderten in die großen Städte ab. In der Tschechoslowakei hingegen war es die landwirtschaftliche Kollektivierung, die hinter der Entwicklung stand. Viele Bauern wurden zu Landarbeitern. Sie verließen ihre Höfe und arbeiteten im Staatsgut oder in der landwirtschaftlichen Genossenschaft der nächsten größeren Gemeinde. Die Leute sind also häufig aus den Dörfern abgewandert, nicht aber aus der Region.

STANDARD: Zuletzt gab es seitens der Regierung in Prag das intensive Bestreben, die österreichisch-tschechischen Beziehungen politisch neu zu beleben. Das gemeinsame Geschichtsbuch, das von beiden Seiten finanziert wird, ist Teil dieser Bemühungen. In der Flüchtlingspolitik aber scheinen wir plötzlich wieder recht weit voneinander entfernt zu sein. Tschechien etwa ist gegen verbindliche Quoten und bekannt für seine restriktive Flüchtlingspolitik. Können Sie das aus historischer Sicht nachvollziehen?

Perzi: Ich möchte über die tschechische Flüchtlingspolitik nicht urteilen. Die Tschechen sind an einen ethnisch relativ kompakten Nationalstaat gewöhnt. In Prag trifft man kaum muslimische Migranten. Es gibt zwar eine vietnamesische und eine ukrainische Minderheit, aber das Zusammentreffen unterschiedlicher Kulturen und Religionen trifft die Tschechen dennoch ziemlich unvorbereitet. Wobei aber auch die christliche Identität, auf die man sich jetzt plötzlich beruft, in Tschechien ja nicht wirklich ausgeprägt ist. (Gerald Schubert, 15.11.2015)