Helmut Lethen, Direktor des IFK in Wien, konzipierte die Tagung über vier internationale Größen, die "noch nie in einem Atemzug genannt wurden".

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STANDARD: Herr Lethen, in welchem Zusammenhang stand das sogenannte "brillante Quartett" – die vier bekannten deutschen Geistesgrößen Carl Schmitt, Ferdinand Sauerbruch, Gustaf Gründgens und Wilhelm Furtwängler – zum NS-Regime?

Lethen: Es gibt einen Satz von Friedrich Nietzsche, der mich schon in jungen Jahren beeinflusst hat: Die deutsche Bildung ist ein Handbuch der Innerlichkeit für äußere Barbaren. Als Schüler und junger Student stieß ich immer wieder auf die Amalgamierung einer Kultur mit dem NS-Staat. Das Regime konnte sich relativ sicher auf die deutsche Kulturelite verlassen. Das genauer zu verstehen ist der moralische Impuls, diese Sache zu machen. Wir nehmen vier Leute, die man nie in einem Atemzug genannt hat. Sie wurden alle von Hermann Göring in den Preußischen Staatsrat berufen, das haben sie gemeinsam.

STANDARD: Was war denn dieser Preußische Staatsrat?

Lethen: Das war eine Art Bundesrat mit marginalen Einspruchsrechten in der Gesetzgebung. Präsident war Konrad Adenauer, der als Vertreter der Rheinprovinzen zu Preußen gehörte. Dann gab es 1932 den sogenannten Preußenschlag, die Entmachtung der sozialdemokratischen Regierung in Preußen. Göring schickte die al- te Mannschaft des Staatsrats in die Wüste und besetzte ihn neu mit prominenten Leuten aus der NSDAP, zum Beispiel mit Ro- land Freihsler, dem berüchtigten späteren Präsidenten des Volksgerichtshofes. Ergänzend wurden auch vier Spitzenprodukte der deutschen Kultur ernannt, zum Teil, ohne von ihrem Glück zu wissen.

STANDARD: Der Staatsrat wurde dadurch auch zu einer Art Reserve-Akademie?

Lethen: Er gehört von da an zum Hofstaat Görings. Johannes Popitz, der Finanzminister von Göring, hatte die Idee, die chaotische nationalsozialistische Bewegung zu zähmen, indem man Elemente dieses Preußischen Staatsrats einbringt. Carl Schmitt war sofort dabei, er hat wichtige Dekrete unterschrieben. Wilhelm Furtwängler ließ sich von Göring nicht nur zum Staatsrat, sondern auch zum Direktor der Berliner Staatsoper ernennen. Sauerbruch war auf Reisen und erfuhr nach seiner Rückkehr davon, dass er nun Staatsrat war. Gründgens war öffentlich bekannter Homosexueller und sah sich gefährdet. Göring beruhigte ihn: Dir kann nichts passieren, wenn du Staatsrat bist. Dieser Titel, den alle bis 1945 trugen, hatte zwei Funktionen. Er war ein grandioses Werbemittel nach außen, er zeigte, dass die Kulturelite auf der Seite der Nazis war. Und er brachte Sicherheit. Wer einen Staatsrat angriff, griff Göring an.

STANDARD: Göring schuf sich also eine Lobby.

Lethen: Die funktionierte so lange gut, wie sein eigener Einfluss groß war, nachdem er die Luftschlacht um England verloren hatte, sank sein Stern. Himmler und Goebbels übernehmen die Stelle der wichtigsten Leute hinter Hitler.

STANDARD: Was lässt uns das "brillante Quartett", gerade weil es sich um so unterschiedliche Figuren handelt, näherhin über das NS-System begreifen?

Lethen: Es gibt kein Dokument, das darauf hindeutet, dass sie sich jemals getroffen hätten. Jeder war Virtuose in seinem Element. Sauerbruch erwarb sich vor allem große Verdienste um die Prothetik, er verbesserte die Beweglichkeit der künstlichen Hand. Er hat übrigens Stauffenberg angeboten, ihm eine Prothese zu machen, der hat abgelehnt, weil er schon mit den Vorbereitungen auf den Anschlag vom 20. Juli 1944 beschäftigt war. Solche Details ergeben den Sound des Staates. Jeder hat seine Dissonanzen. Eine Diktatur kann nur auf der Basis von Teildissensen funktionieren. Die Generation der Unbedingten, von der der Historiker Ulrich Herbert schrieb, ist eben nur ein Teil des NS-Staates. Herbert wird auf unserer Tagung über die Professoren im Dritten Reich sprechen. Die Kulturelite hatte immer Teildissense. Ich folgere daraus: Nur so kann eine Diktatur funktionieren. Oder, um es mit Kurt Gödel zu sagen: Ein System, das widerspruchsfrei ist, ist unvollständig.

STANDARD: Es gibt also so etwas wie eine Amplitude des Nichteinverstandenseins. Bei Carl Schmitt war sie gering, bei Ferdinand Sauerbruch aber wohl größer.

Lethen: Sauerbruch ist der dunkelste Fall. Er war der letzte Leibarzt von Hindenburg, deswegen wurde er Staatsrat. Er wollte auf keinen Fall Mitglied der Partei werden, das hat man akzeptiert. Ganz eindeutig war er politisch der Naivste, er stellte Leuten des Widerstands sein Haus zur Verfügung, ohne sich über die Folgen Gedanken zu machen. Aber auch das gehört zu seiner Rolle: Er sollte gar keine Ideologie verbreiten, es genügte, dass er öffentlich als Aushängeschild des Staates fungierte.

STANDARD: Es geht wohl auch um eine Differenzierung des Begriffs der Gleichschaltung. Diese ist in sich heterogen. Umgekehrt kann man mit Blick auf Gründgens oder Furtwängler noch einmal das Klischee überprüfen, dass Genie immer latent blind für die politischen Realitäten ist.

Lethen: Ganz genau, alle diese Fälle können mit gutem Grund moralisch-philosophisch beurteilt werden, aber ich will den Skandal dadurch verschärfen, dass ich sie in ihrer geistigen Brillanz und als Vertreter deutscher Kultur darstelle. Raphael Gross wird in einem Vortrag darüber sprechen, wie aus moralischen Kategorien und bestimmten Situationen rechtliche werden – ein Aspekt, der übrigens in der gegenwärtigen Flüchtlingskrise von eminenter Bedeutung ist.

STANDARD: Schmitts Denken zieht sich wie ein Reibepunkt durch Ihr intellektuelles Arbeiten – warum?

Lethen: Ich kenne Schmitt nicht über die damals bei der Linken heiß diskutierte Partisanentheorie, da war ich noch nicht dabei. Ich las von ihm zuerst Der Begriff des Politischen, die Schrift mit der Freund-Feind-Unterscheidung. Ich war fasziniert von dieser lateinischen Luzidität der Sprache. Schmitt berief sich auf Plessners Anthropologie, aus dieser Kombination ist mein Buch über die Verhaltenslehren der Kälte entstanden. Später habe ich in meinen Essays über die Unheimlichen Nachbarschaften gezeigt, welche intellektuellen Querverbindungen zwischen so unterschiedlichen Denkern wie Carl Schmitt, Walter Benjamin, Georg Lukács oder Bertolt Brecht existiert haben. (Bert Rebhandl, 15.11.2015)