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Jedes Kind ist manchmal unartig oder unaufmerksam, folgt nicht oder ist sonst irgendwie schwierig. Das ist aber kein Grund, sich in esoterische Traumwelten zu flüchten.

Foto: APA / dpa / Patrick Pleul

Das Kind ist unruhig? Es folgt nicht, ist rebellisch und vielleicht sogar auch noch schlecht in der Schule? Kein Grund zur Sorge! Denn das liegt nicht an mangelhafter Erziehung oder gar an irgendwelchen psychischen Problemen. Das Kind ist einfach nur ein Botschafter eines neuen Zeitalters, hat übernatürliche Fähigkeiten und ist auf die Erde gekommen, um eine neue Ära des Friedens und der Spiritualität vorzubereiten.

Es ist ein sogenanntes Indigo-Kind, und angesichts seiner großen Aufgabe darf man sich nicht wundern, wenn es ein wenig seltsam ist.

Die neuen Menschen

Das zumindest wird unter esoterischen Eltern gerne mal behauptet. Die Geschichte dieser ganz besonderen Kinder gehört mittlerweile zum Standard-Inventar der neuen Esoterik: "Die Energien auf unserem Planeten haben sich verändert. Wir stehen vor einem neuen evolutionären Sprung, gehen Schritte in ein neues Zeitalter. In diesem neuen Zeitalter muss es auch neue Menschen geben, und wir als Menschheit bewegen uns in die Richtung, aus uns einen neuen Menschen hervorzubringen. Die neuen Kinder sind die ersten Menschen dieses neuen Zeitalters."

So wird das (angebliche) Phänomen beispielsweise auf der Internetseite "Energie der Sterne" erklärt. Die neuen Menschen sind demnach seit einigen Jahrzehnten unter uns; die ersten Indigo-Kinder sollten also mittlerweile schon zu jungen Indigo-Erwachsenen herangewachsen sein.

Erkennungszeichen: Aurafarbe

Ausgedacht hat sich die ganze Geschichte jedenfalls die amerikanische Autorin Nancy Ann Tappe in ihrem 1982 erschienen Buch "Understanding Your Life Through Color". Sie will bemerkt haben, dass bestimmte Kinder eine indigofarbene "Aura" haben. Und das geht mit außergewöhnlichen Fähigkeiten einher: "Ihre klare Sicht, die Dinge anzuschauen und wahrzunehmen, die Gespräche der Naturwesen, Feen und Elfen sowie der vielen Gespenster nicht nur zu hören, sondern auch noch zu verstehen, bereitet ihren Eltern oft große Schwierigkeiten", meinte Siegfried Woitina, Autor des Ratgebers "Wer sind die Indigo-Kinder?", in einem Interview mit der Zeitschrift "Maxima" im Jahr 2008.

Kinder, die mit Gespenstern plaudern – dass Eltern damit "große Schwierigkeiten" haben, ist kein Wunder. Aber vielleicht haben sie ja auch Glück, und es geht ihnen wie der Waldorfpädagogin Sylvia Stangl, die im gleichen Interview von den Erfahrungen aus ihrer "Indigo-Schwangerschaft" erzählt: "Mein jüngster Sohn Valentin hat mir ab dem Zeitpunkt seiner Inkarnation in meinem Bauch gezeigt, was es heißt, mit Engeln und ihren Energien in Verbindung zu treten. Er weiß noch sehr viel von – wie er sagt – der anderen Welt. Er weiß auch, dass er vorher woanders stationiert war und dass er gekommen ist, um mir zu helfen."

Übernatürliche Begabungen

Indigo-Kinder erkennt man angeblich, weil sie sich nicht an die üblichen Regeln und Grenzen halten, die ihnen von Eltern und anderen Autoritätspersonen gesetzt werden. In der Schule sind sie deswegen schlecht und haben Schwierigkeiten mit Lehrern und Mitschülern. Sie erscheinen störrisch, hyperaktiv und wollen sich nicht konzentrieren – und das, obwohl sie nicht nur angeblich hochintelligent sind, sondern auch übernatürliche Fähigkeiten wie Telepathie oder Geistheilung beherrschen sollen.

Man kann das alles für die üblichen esoterischen Spinnereien halten und sich nicht weiter darum kümmern. Aber gerade das Phänomen der Indigo-Kinder zeigt, wie problematisch der Umgang mit irrationalen Weltbildern sein kann. Wenn Erwachsene an Geisterwelten, Botschaften von Engeln, veränderte Planetenenergien und neue Zeitalter glauben wollen, dann ist das ihre freie Entscheidung, und niemand soll sie davon abhalten. Aber bei Kindern ist die Sache nicht mehr ganz so einfach.

Selbstverständlich steht es auch hier den Eltern frei, ihren Kindern im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen ihre eigenen Ideologien und Weltanschauungen zu vermitteln. Immerhin haben wir als Gesellschaft ja auch nichts dagegen, dass schon Babys, die keine freie Entscheidung treffen können, per Taufe Teil einer Religionsgemeinschaft und all deren Konventionen und Regeln unterworfen werden (obwohl man durchaus darüber diskutieren könnte, ob man da nicht doch etwas dagegen haben sollte – aber das ist wieder ein ganz anderes Thema).

Echte Probleme wegfantasieren

Hier geht es aber nicht nur um individuelle Weltanschauungen. Hier geht es ganz direkt um das Wohl das Kindes. Der esoterische Buchmarkt ist voll mit Ratgebern für Eltern von angeblichen Indigo-Kindern. Diese Werke heißen beispielsweise "Das Praxisbuch für Indigo-Eltern", "Eltern aufgepasst: Die neuen Kinder sind da!", "Die Kinder des neuen Bewusstseins!" und "Indigo-Kinder sind unsere Zukunft".

Darin werden sie auf eine Art und Weise charakterisiert, dass fast alle Eltern am Ende zu dem Schluss kommen können, ihr Nachwuchs sei ebenfalls eines der "neuen Kinder", die den Planeten verändern werden. Denn kein Kind ist perfekt. Jedes Kind ist manchmal unartig, unaufmerksam, folgt nicht oder ist sonst irgendwie schwierig. Das ist völlig normal und weder ein Grund zur Sorge noch ein Grund, seinem Kind zu erzählen, es sei der Vorbote einer neuen menschlichen Superrasse.

Andererseits kann es durchaus ernsthafte und reale Gründe geben, warum ein Kind schlecht in der Schule ist, Stress mit Lehrern und Mitschülern oder Probleme mit Regeln und Autoritäten hat. Diese Gründe können physischer oder psychischer Natur sein, sollten aber auf jeden Fall ernst genommen werden. Konzentrationsschwächen, Autoritätsprobleme und schulische Schwierigkeiten kann man auf viele verschiedene Arten erfolgreich beheben. Die Symptome aber zu ignorieren und sich einzureden, das Kind sei halt einfach ein ganz besonderes "Indigo-Kind", ist mit Sicherheit kein guter Weg.

Das Recht, nicht verarscht zu werden

Kinder genießen zum Glück in unserer Gesellschaft einen besonderen Schutz und haben viele Rechte. Zu diesen Rechten sollte auch gehören, nicht verarscht zu werden. Schon gar nicht von den eigenen Eltern. Es mag beruhigend sein, wenn man sich als Elternteil nicht mit den Problemen der Erziehung auseinandersetzen muss und sich stattdessen einreden kann, das eigene Kind sei eben etwas ganz Besonderes.

"Ich wünschte, ich hätte dieses Buch gehabt, als meine Kinder noch ganz klein waren! Viele Schuldgefühle wären mir erspart geblieben, und ich hätte all denen, die mir sagten, dass mit meinen Kinder etwas nicht stimme, etwas entgegenzusetzen gehabt", schreibt zum Beispiel eine Leserin von "Das Praxisbuch für Indigo-Eltern" in einer Rezension. Aber auch wenn dieses Verhalten verständlich ist, ist es deswegen noch lange nicht in Ordnung.

Kinder haben es verdient, dass man sie und ihre Probleme ernst nimmt. Anstatt sich in esoterische Traumwelten zu flüchten und sich irgendeinen Unsinn über telepathische Superwesen eines neuen Zeitalters auszudenken, sollten Eltern ihre Kinder so akzeptieren, wie sie sind. Jedes Kind ist etwas ganz Besonderes. Auch ohne indigofarbene Aura. (Florian Freistetter, 10.11.2015)