Alois Riegl, Julius von Schlosser, Max Dvořák und Josef Strzygowski (v. li.): vier Köpfe, die die Wiener Schule der Kunstgeschichte prägten. Einige von ihnen konnten ihren Hass auf Kollegen nicht kontrollieren, alle haben die Grenzen des Fachs verschoben.

Fotos: Institut für Kunstgeschichte

Wien -"Genau genommen gibt es die Kunst gar nicht. Es gibt nur Künstler." Mit diesen Worten beginnt Ernst Gombrich sein bekanntes Buch Die Geschichte der Kunst. Der Satz ließe sich auch auf die geistige Herkunft des Autors anwenden. Gombrich hat in Wien studiert und gilt als Spross der Wiener Schule der Kunstgeschichte – einer Strömung, die in den 1890er-Jahren ihren Ursprung nahm und Ende der 1930er-Jahre mit der Vertreibung der Vernunft ihr Ende fand.

Wobei gar nicht so klar ist, was man unter der Wiener Schule zu verstehen hat. Das liegt zum einen daran, dass ihre Vertreter das Fach recht individuell interpretierten und ihren Nachfolgern keine geschlossene Lehrtradition hinterließen. Zum anderen liegt es an der Definition selbst: Das Gründungsmanifest der Wiener Schule der Kunstgeschichte war, so wurde es in der Zeitschrift Neue kunstwissenschaftliche Forschungen bezeichnet, ein "Monument der Wissenschaftspropaganda".

Wer betrieb hier Propaganda? Julius von Schlosser, Ordinarius an der Universität Wien. Von Schlosser veröffentlichte 1934 einen Aufsatz, in dem erstmals offiziell von der Wiener Schule die Rede war, inklusive Aufzählung ihrer Mitglieder. Doch die Liste war nicht vollständig. Den Kunsthistoriker Josef Strzygowski und dessen Schüler zählte von Schlosser bewusst nicht hinzu. Das mochte auch fachliche Gründe haben. Doch das eigentliche Motiv war: Feindschaft.

Die Wurzeln der Feindschaft reichen zurück ins Jahr 1909. Damals wurden an der Universität Wien zwei Lehrstühle besetzt. Den einen erhielt Strzygowski, den anderen der Tscheche Max Dvorák. Die beiden waren einander von Beginn an nicht grün. Dvorák betrieb Kunstgeschichte als Geistesgeschichte und wies nach, wie sich der Zeitgeist in der Kunst materialisiert. Strzygowski indes lehnte den europäischen Blickwinkel seines Kollegen ab und wandte sich der nordischen und asiatischen Kunst zu. Ein Umstand, der ihm später den Spitznamen "Attila der Kunstgeschichte" einbrachte.

Kontakt beim Rigorosum

"Der Konflikt zwischen dem Dvorák- und dem Strzygowski-Lager ging so weit, dass im Jahr 1912 die beiden Lehrstühle organisatorisch getrennt wurden", sagt Friedrich Polleroß vom Institut für Kunstgeschichte der Universität Wien. "Ab diesem Jahr gab es in Wien zwei unabhängige Institute. Sie waren räumlich getrennt, hatten getrennte Bibliotheken. Selbst die Studenten an den beiden Instituten mieden einander." Kontakt zwischen den Kontrahenten gab es dann, wenn ein kommissionelles Rigorosum die Anwesenheit beider Professoren notwendig machte.

Das war etwa 1914 der Fall: Zum Rigorosum am Dekanat der Uni Wien trat der Amerikaner Richard Offner an. Zuerst prüfte Dvorák, der Doktorvater. Sein Student bestand brillant, dann war Strzygowski als Zweitprüfer an der Reihe. Als Offner bei seiner Antwort ins Stocken kam, so erzählt man sich, fragte Strzygowski: "Kennen Sie nicht mein Buch Kunde, Wesen und Entwicklung?" Darauf Offner: "Das kenne ich sehr wohl, Herr Hofrat. Aber ich halte nichts davon." Dvorák blickte daraufhin lächelnd aus dem Fenster Richtung Votivkirche. Die Eskalation blieb aus. Strzygowski gab dem provokanten Prüfling am Ende eine Auszeichnung. Dieser machte später Karriere und wurde einflussreicher Kunsthistoriker an der New York University.

Stellt man nicht den Disput, sondern das Gemeinsame in den Vordergrund, ergibt sich eine ganz andere Lesart der Geschichte, betont Artur Rosenauer, Emeritus am Institut für Kunstgeschichte. Den Leitgedanken der Wiener Schule habe Alois Riegl Ende des 19. Jahrhunderts formuliert, sagt er, nämlich: "Das Bestreben, das Kunstwerk nicht aus Sicht einer ästhetischen Norm zu betrachten, sondern als historisches Phänomen." Für Riegl gab es kein Höheres und Minderes in der Kunst, keine kulturelle Blüte und Degeneration, sondern nur das Objekt und den Künstler. "Jede Epoche ist unmittelbar zu Gott", bemerkte der deutsche Historiker Leopold von Ranke einmal.

Riegl kommt das Verdienst zu, diesen Gedanken (abzüglich Gottes) auf die Kunst angewandt zu haben. Ein historischer Durchbruch, sagt Rosenauer: "Man muss bedenken, dass Picasso keine zehn Jahre später die Demoiselles d'Avignon gemalt hat – ob's Riegl gefallen hat, weiß ich nicht. Ich bezweifle es. Aber damit war die Türe geöffnet für eine Wertschätzung der Moderne."

Riegl ist es auch, der von den Vertretern der Wiener Schule die stärkste Renaissance erfahren hat. Paul Feyerabend, Claude Levi-Strauss und Gilles Deleuze bezogen sich auf ihn. Und auch die kunsthistorische Fachgemeinde besinnt sich wieder auf den stillen Revolutionär, nicht zuletzt, weil einige seiner Werke erst in den letzten Jahren ins Englische und Französische übertragen wurden.

Die Frage ist: Was eint die Individualisten der Wiener Schule? Trotz ihrer unterschiedlichen Interessen haben alle die Grenzen der Kunstgeschichte verschoben und das Fach für Neues geöffnet. Intellektuell wie geografisch. Strzygowski beispielsweise vergab bereits im Jahr 1933 eine Dissertation im Bereich Filmwissenschaft und wollte 20 Jahre zuvor Außenstellen des Instituts in Teheran und Peking errichten.

Dieser Plan scheiterte zwar an der Finanzierung, doch Studienreisen nach Osten wurden realisiert. Es ging in den Iran, nach Sibirien, Japan und Armenien. Dvorák wiederum setzte die Riegl'sche Tradition der Wertfreiheit fort und befreite den Manierismus vom Vorwurf des Schwulstes. Von Schlosser gelang Ähnliches in Bezug auf die Quellen: Ob Münzen, Statuetten oder Wachsfiguren – er untersuchte alles und konnte auch aus allem kunsthistorische Einsichten destillieren.

Ideologische Ambivalenz

Ein einendes Thema der Wiener Schule ist wohl auch die ideologische Ambivalenz. Viele jüdische Studenten und Studentinnen waren an den Wiener Instituten (die 1933 wieder zusammengelegt wurden) inskribiert und trugen die Lehre ins Ausland. Eine Absolventin aus Wien wurde 1922 gar Professorin in Indien. Der Umgang miteinander war von Wertschätzung geprägt – trotz der späteren nationalistischen Gesinnung einiger Proponenten.

Das wohl bekannteste Beispiel ist Hans Sedlmayr, ein Schüler Julius von Schlossers. Er galt als großer Kunsthistoriker, war aber ebenso ein Nazi. Von Schlosser war Großdeutscher und sehnte den "Anschluss" früh herbei. Sein Kontrahent Strzygowski wiederum vertrat einen indogermanischen "Nordstandpunkt", der – ebenfalls kompatibel mit der Nazi-Ideologie – in späten Jahren bizarre Züge annahm. Sein Bedürfnis, alles und jedes auf die nordisch-germanische Kultur zurückzuführen, ließ sich auch von widersprechenden Befunden nicht in die Schranken weisen.

Dies ist auch Inhalt einer anderen Anekdote, die man sich am Wiener Institut erzählt. Sie handelt vom Rigorosum Hans Sedlmayrs: Strzygowski prüfte den Dissertanten seines Erzfeindes zum Thema gotische Kathedralen. Sedlmayr wusste, was sein Prüfer hören wollte: "Herr Hofrat, wenn ich mir eine private Bemerkung erlauben darf: Mir scheint, dass auch die nordischen Stabkirchen bei der Entstehung der Kathedrale eine Rolle spielen." Strzygowski: "Sie sagen das auch – und mir glaubt man's nicht!" (Robert Czepel, 9.11.2015)