Bild nicht mehr verfügbar.

Ahmet Davutoglu, zuletzt nur interimistisch geschäftsführender Regierungschef, trat Sonntagnacht voller Selbstbewusstsein auf.

Foto: AFP / Adem Altan

STANDARD: Haben Sie den hohen Sieg der AKP erwartet? Wie reagieren die Menschen in Ihrer Umgebung in Gaziantep auf diesen Wahlausgang?

Kiliç: Mit einem solchen Ergebnis hat niemand gerechnet, nicht einmal die AKP. Ich persönlich habe einen knappen Sieg für möglich gehalten; einen Stimmenanteil, der gerade noch für eine Alleinregierung reicht, aber nicht ein solch hohes Ergebnis. Richtig ist, dass sich die Stimmung in den letzten zwei Wochen geändert hat. Es war ein bisschen wie bei den Wahlen 2007 und 2011, als sich die Leute sagten: Es gibt keine Alternative zur AKP. Besonders die starre Haltung von Devlet Bah çeli, dem Chef der MHP (rechtsgerichtete Nationalisten, Anm.), in der Frage einer Koalition hat viele verärgert. In Gaziantep gibt es viele nationalistisch gesonnene Wähler. Die warfen Bahçeli vor, sich wie ein Kind zu benehmen, das ständig Nein sagt. Vor den Wahlen im Juni hat alle AKP-Wähler hier der Hochmut Tayyip Erdogans gestört. Dafür bekam die Partei dann die Quittung. Jetzt mögen die Regierungsgegner deprimiert sein, aber es ist auch eine allgemeine Erleichterung über den Wahlausgang zu spüren.

STANDARD: Wie kam nun dieses Wahlergebnis zustande?

Kiliç: Durch den Einbruch bei den Nationalisten; aber dann auch dadurch, dass enttäuschte AKP-Wähler, die im Juni zu Hause geblieben waren, nun wieder zur Wahl gingen. Erdogan hat sich zurückgenommen, nicht mehr vom Präsidialsystem gesprochen. Das hat den Leuten gereicht. Ahmet Davutoglu wiederum, der Regierungschef, wird ohnehin als bescheiden angesehen.

STANDARD: Sein Spielraum als Premier ist sehr klein.

Kiliç: Das kann sich nun ändern. In der Wahlnacht sah man einen selbstbewussten Davutoglu. Er kann nach diesem Wahlsieg stärker auftreten. Das könnte auf lange Sicht auch zu einer Demokratisierung innerhalb der AKP_führen. Parteipolitiker könnten einmal sagen: Wir brauchen Tayyip Erdogan nicht mehr.

STANDARD: Wer hat noch zum Sieg der Konservativ-Religiösen beigetragen?_Ein Teil der Kurden ist doch offenbar auch zur AKP_zurückgekehrt.

Kiliç: Richtig. Das sind die frommen kurdischen Wähler, die im_Prinzip kein Problem mit dem türkischen Staat haben. Sie haben im Juni die HDP_ausprobiert, weil es schien, dass sich diese Partei zum Zentrum bewegt. Doch dann sagte Selahattin Demirtaş Dinge wie: "Wir sind Öcalan dankbar." (Abdullah Öcalan, Gründer der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans PKK, Anm.) Und die Anschläge der PKK_folgten, die Debatte über die Selbstverwaltung. Das alles nahmen diese zwei, drei Prozent der Kurden nicht hin. Sie wollen Ordnung haben.

STANDARD: Den Großteil der Türken stört eigentlich nicht, dass ein TV-Moderator von AKP-Mitgliedern zusammengeschlagen wird oder dass eine regierungskritische Mediengruppe unter Zwangsverwaltung kommt. Ist das so?

Kiliç: Das stört sie in der Tat nicht. Aber es stört auch Europa nicht, wenn man ehrlich ist. Angela Merkel und die anderen EU-Führer sind äußerst zufrieden, dass die AKP wieder allein regiert.

STANDARD: Sind Sie sich da wirklich sicher?

Kiliç: Absolut. Für Europa ebenso wie für die Menschen hier ist es wichtiger, eine stabile als eine besonders demokratische Regierung in der Türkei zu haben. Die EU_ist an einer Lösung der Flüchtlingsfrage interessiert. Die Türken wollen sicher sein, dass die Wirtschaft weiterhin läuft. Der Wohlstand im Land ist auf Ton gebaut. Und Demokratie ist eben ein Lernprozess.

STANDARD: Die AKP ist nun wieder vier Jahre allein an der Macht im Land. Was passiert jetzt?

Kiliç: Ich kann mir gut vorstellen, dass die Türkei bald wieder eine reformorientierte Politik vorantreibt wie vor 2008. Erdogan hat bei seinem Besuch in Brüssel im Oktober erklärt, dass die Beitrittsverhandlungen weitergeführt und die Kapitel zu Rechtsstaat und Justiz geöffnet werden müssen. Das kann politisches Kalkül sein. Aber es kann auch den Willen zu Reformen signalisieren.

STANDARD: "Reformen" würde dann aber heißen, Medienfreiheit und Unabhängigkeit der Justiz in der Türkei wiederherzustellen.

Kiliç: Sicher. Das wird vielleicht nicht in absehbarer Zeit passieren. Aber man muss das Wahlergebnis verstehen: Diese 49 Prozent sind nicht selbstverständlich. Es ist auch eine Botschaft der Wähler, die lautet: Wenn ihr wieder zu weit geht, dann werdet ihr von der Alleinregierung abgewählt wie im Juni. Das war ein Warnschuss.

STANDARD: Sie leben und arbeiten in Gaziantep, einer Millionenstadt nahe der syrischen Grenze. Wie hat sich der Krieg im Nachbarland auf Ihre Stadt ausgewirkt?

Kiliç: 2012, 2013 war die Stimmung zwischen den Bewohnern und den syrischen Flüchtlingen ziemlich gereizt. Sie leben hier nebeneinander. Die Sicherheits lage ist eben nicht gut. Die Attentäter von Ankara haben ihren Anschlag von hier aus vorbereitet. (Markus Bernath, 2.11.2015)