"Jeder Jugendliche im kleinsten afrikanischen Dorf kann sich darüber informieren, was in der Welt vor sich geht."

Foto: Honsig

"Es reicht nicht mehr, eine gute Ausbildung zu haben, um ein gutes Leben zu bekommen."

Foto: Honsig

"Noch mehr als ideologische Orientierung und Sinnstiftung bieten Gruppen wie Boko Haram, Al-Shabaab, Al-Kaida und die Salafisten finanzielle Absicherung für die Jungen und deren Familien."

Foto: Honsig

"Die Umstürze im Arabischen Frühling zeigten, dass Proteste Veränderungen bringen können."

Foto: Honsig

STANDARD: Sie nennen die Generation, die jetzt in Afrika aufwächst, "Waithood-Generation": Junge, die mangels Arbeitsmöglichkeiten nicht in das Erwachsenenleben eintreten können. Was genau kennzeichnet diese Generation?

Honwana: Diese Generation lebt in einer Art Zwischenwelt. Sie sind keine Kinder mehr, haben aber nicht die Möglichkeit, in das Erwachsenenleben einzutreten. Sie sind nicht unabhängig, haben keine Jobs, keine eigenen Wohnungen, keine Familien. Sie warten auf all das. In Europa hat die Wirtschaftskrise die Jobmöglichkeiten reduziert, viele Leute mit guter Ausbildung sind arbeitslos oder müssen einer Arbeit nachgehen, für die sie überqualifiziert sind. So leben sie noch bei ihren Eltern im Kinderzimmer und lassen sich von ihnen durchfüttern. Das ist in Afrika schwieriger: Die Mehrheit ist arm und kann sich nicht um die erwachsenen Kinder kümmern. So halten sich die jungen Leute mit kleinen Jobs über Wasser und verdingen sich als Straßenhändler, als Schuhputzer, auch wenn sie gut ausgebildet sind. Und sie kommen unweigerlich auch mit Kriminalität in Kontakt.

STANDARD: Wie unterscheidet sich ihre Situation von der ihrer Eltern?

Honwana: Am Beispiel Mosambik: Ein Großteil der jungen Männer waren frühen Arbeiter in den Goldminen Südafrikas. Ein klassischer Lebenslauf sah so aus: Mit 18 Jahren gingen sie mit einem 18-Monate-Vertrag nach Südafrika und arbeiteten in den Minen. Sie kamen zurück und konnten ein Ehegeld bezahlen, sie heirateten, gingen wieder nach Südafrika mit dem nächsten Vertrag. Nach der neuerlichen Rückkehr wurde ein Haus gebaut, nach der nächsten Rückkehr kamen die Kinder. Man konnte sich an einem System orientieren, das existiert heute nicht mehr.

STANDARD: Aus welchen Gründen?

Honwana: Es ist eine Kombination aus schlechter Regierungsführung, schlechtem Management, sozialen und ethnischen Spannungen und daraus resultierenden Krisen und den globalen Strukturen des Kapitalismus. In Mosambik wurde beispielsweise durch den langen Bürgerkrieg (1977 bis 1992, Anm.) sehr viel soziale Infrastruktur zerstört. In Südafrika gerieten die Minen in wirtschaftliche Schwierigkeiten. Die meisten afrikanischen Länder sind abhängig von Hilfe der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds, die wiederum strikte Einschränkungen und Regeln haben, die den schwachen Märkten in Afrika aufgezwungen werden.

STANDARD: Jüngst war bei Studentendemos gegen hohe Studiengebühren in Südafrika auf einem Plakat zu lesen: "New democracy, same old shit" und "Sorry for the inconvenience. We're trying to change the world." Die Generationen davor waren politisch, weil sie zum Beispiel gegen den Kolonialismus auftraten. Und die aktuellen?

Honwana: Junge Afrikaner nehmen wahr, dass ihre Probleme nicht rein afrikanische Probleme sind, sondern Probleme eines weltweiten Systems. Natürlich mitverursacht durch schwache Regierungen, die unfähig waren, die Wirtschaft vor multinationaler Ausbeutung zu schützen. Wenn junge Afrikaner jetzt nach Europa auswandern, sagen sie damit auch: "Unser Problem ist auch euer Problem, denn euer System hat das Ganze erst möglich gemacht." Viele multinationale Konzerne aus Europa und den USA, mittlerweile auch aus China, machen gutes Geld in Afrika, das dort niemandem nützt.

STANDARD: Die vergangenen Jahre zeigen einige Beispiele von Protesten – getragen vor allem von der jungen Generation –, die zu Rücktritten von Regierungen geführt haben. Hat sich denn die Situation der Menschen verändert?

Honwana: Die Umstürze im Arabischen Frühling zeigten, dass Proteste Veränderungen bringen können. Ob diese immer gut sind, kann man nicht vorhersehen. Was alle diese Umsturzbewegungen aber gemeinsam haben, ist, dass sich die Menschen hinstellen und sagen: "So geht's nicht mehr." Natürlich haben die Regierungen die Mittel, den Jungen das Aufbegehren abzugewöhnen. Sie schicken Polizei, Tränengas, Militär. Viele Protestbewegungen wurden im Keim erstickt und die Menschen derart eingeschüchtert, dass sie keine Gefahr mehr darstellen. Die Reihe der Proteste ist trotzdem erstaunlich lang, und Jugendproteste sind eine Konstante in Afrika. Aber Veränderungsprozesse brauchen Zeit. Nehmen wir die Begehrlichkeiten einiger afrikanischer Präsidenten, sich durch Verfassungsänderungen dritte Amtszeiten zu erzwingen. Im Senegal konnte das verhindert werden, ebenso in Burkina Faso. In Burundi, im Kongo ist das leider nicht gelungen, aber die ganze Welt wurde aufmerksam auf die Situation. In Zukunft werden es die Präsidenten nicht mehr so leicht haben.

STANDARD: Wie groß ist die Gefahr für junge Menschen, einer radikalen Gruppe anheimzufallen?

Honwana: Groß. Die radikalen Gruppen haben teilweise leichtes Spiel bei jungen Männern, die keine Perspektive haben und gegen eine kapitalistische Lebenseinstellung Position beziehen wollen. Noch mehr als ideologische Orientierung und Sinnstiftung bieten Gruppen wie Boko Haram, Al-Shabaab, Al-Kaida und die Salafisten aber finanzielle Absicherung für die Jungen und deren Familien.

STANDARD: Wird die junge Generation – auch von den Eliten – instrumentalisiert, was ethnische und religiöse Konflikte betrifft?

Honwana: Teilweise ja. Aber man muss auch sehen, dass diese Generation auf mehr Wissen und Information zurückgreifen kann als je eine Generation davor. Jeder Jugendliche im kleinsten afrikanischen Dorf kann sich darüber informieren, was in der Welt vor sich geht. Die Kehrseite dieser globalen Informationsvernetzung ist natürlich auch, dass man seine eigene Situation in Vergleich setzen kann zu Biografien anderswo. Und man sieht die Ungerechtigkeiten live und kommt darauf: "Wow, das ist eine Welt da draußen, an der ich nie teilhaben werde." Es reicht nicht mehr, eine gute Ausbildung zu haben, um ein gutes Leben zu bekommen. Auch gut Ausgebildete sind von Arbeitslosigkeit bedroht. Die jungen Afrikaner erwarten viel mehr vom Leben als die Generationen davor und bekommen viel weniger.

STANDARD: Immer mehr junge Afrikaner wollen ihr Glück in Europa versuchen und riskieren dabei teilweise ihr Leben. Die Antwort Europas auf die Sehnsüchte der Menschen könnte deutlicher nicht sein.

Honwana: Wenn Europa die verstärkte Migration als Konsequenz seines eigenen Handelns sehen würde, würden die Reaktionen vielleicht anders aussehen. Wie lange will man noch eine Festung sein, wie lange Zäune aufbauen? Wenn wenige viel haben und viele nichts, wie lange kann das gutgehen? Es sollte doch so sein, dass die Menschen woanders hingehen, weil sie die Qualifikationen haben, die dort gerade gebraucht werden. Und zwar ohne Einschränkungen. Derzeit haben wir es aber mit einer massiven und verzweifelten Migration zu tun, die klarmacht, dass insgesamt etwas falsch läuft.

STANDARD: Am 11. und 12. November findet in La Valletta in Malta der EU-Afrika-Gipfel zu Migration statt. Europas Position ist, die afrikanischen Länder finanziell zu unterstützen, damit diese die Menschen zurücknehmen, die keine Chance auf Asyl haben.

Honwana: Europa hat bis jetzt die Migration unter Kontrolle gehabt, jetzt verliert es die Kontrolle. Ich verstehe schon, dass Zuwanderung den europäischen Regierungen zusetzt. Rechte Parteien haben enormen Zustrom, die normalen Leute empfinden die "Fremden" als Bedrohung. Aber wie gesagt – das ist eine Konsequenz eines weltweiten Systemfehlers, an dem jede Regierung ihren Beitrag hat. Die Welt hat eine Verantwortung. Ich hoffe, dass es in La Valletta Ansätze für eine gemeinsame Strategie gibt. Aber bisher sieht es so aus, als würde man weiter nur kurzfristige Schadensbegrenzung betreiben. (Manuela Honsig-Erlenburg, 3.11.2015)