Europa pflegt gerne eine Außenpolitik der Werte. Aber manchmal müssen selbst die größten politischen Idealisten zu Realisten werden. So etwa in der Beziehung der EU zur Türkei nach dem Wahltriumph der AKP.

Staatspräsident Tayyip Erdoğan hat seinen Erfolg mit fragwürdigen Mitteln erkauft – Repression, Zensur, Krieg, möglicherweise sogar Terror gegen die eigene Bevölkerung. Aus Sicht einer Politik, die Menschenrechte und Demokratie hochhält, müsste Europa auf Distanz zur Türkei und der neugewählten Regierung gehen.

AKP lässt sich nicht schwächen

Aber das bringt im Augenblick niemandem etwas. Die AKP sitzt so fest im Sattel, dass keine Ermahnungen oder Sanktionen aus Brüssel sie innenpolitisch schwächen können. Und am fairen Ablauf der Wahl selbst gibt es wenig Zweifel. Erdogan und seine Leute haben die Unterstützung fast der Hälfte der Wähler.

Und Europa braucht die Unterstützung der Türkei bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise dringender denn je. Nicht, dass Ankara die Flucht über die Ägäis komplett stoppen könnte. Aber eine bessere Zusammenarbeit mit den Türken würde helfen, dass weniger Schlepperboote losfahren. Das würde nicht nur den Zustrom verringern, sondern auch in den kommenden Winterstürmen Menschenleben retten.

Zugeständnisse nützen Proeuropäern

Dafür muss die EU Zugeständnisse machen, bei den stockenden Beitrittsverhandlungen wie auch bei der von der Türkei dringend gewünschten Visaliberalisierung. Wenn die Regierung hier viel erreicht, stärkt das die AKP noch weiter. Aber es nützt auch jenen proeuropäischen Kräften, die Erdoğan kritisch gegenüberstehen – Geschäftsleuten, Akademikern, Studierenden und allen, die eine stärkere Bindung an Europa wollen.

Das ist in der jetzigen Situation auch moralisch vertretbar. Selbst wenn die EU hier der Türkei stark entgegenkommt, heißt das nicht, dass die Türkei in absehbarer Zeit der Union beitreten wird. Ein Vertrauensvorschuss für Erdoğan könnte nicht nur sein Verhältnis zu Europa entspannen, sondern ein wenig auch das Verhältnis zu den Kurden und der Opposition.

Stunde der Realpolitik

Und wenn Erdoğan dieses Vertrauen missbraucht und den Marsch in die autoritäre Alleinherrschaft fortsetzt, ist noch immer Zeit für einen Kurswechsel. Vorerst aber ist im Umgang mit der Türkei die Stunde der Realpolitik gekommen. (Eric Frey, 2.11.2015)