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Viele Flüchtlinge, vor allem auch Kinder, haben Dinge erlebt, die sie traumatisiert haben. Das westliche Traumakonzept erfasst die Störungsbilder von Menschen aus anderen Kulturen aber nur teilweise.

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Traumaexperte Klaus Ottomeyer arbeitet als Psychotherapeut auch selbst mit Flüchtlingen.

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STANDARD: In diesen Tagen ist oft die Rede davon, dass viele Flüchtlinge "traumatisiert" sind. Was ist unter "Trauma" zu verstehen?

Ottomeyer: Ein Trauma ist eine Verletzung, in unserem Fall vor allem der Seele, des seelischen Gleichgewichts – meistens verbunden mit einer großen Erschütterung des Vertrauens in die Welt, in sich selbst und manchmal auch in Gott. Das erleben Kinder so wie Erwachsene. Die Bewältigungsstrategien, die wir haben, funktionieren dann auf breiter Front nicht mehr, und es breitet sich eine ziemlich grundlegende Hilflosigkeit und Verzweiflung aus.

STANDARD: Gibt es Zahlen, wie viele Flüchtlinge traumatisiert sind?

Ottomeyer: Bei Flüchtlingen aus Tschetschenien liegt das sicherlich zwischen 40 und 60 Prozent. Aber das tritt nicht immer auf als ordentliche "posttraumatische Belastungstörung". Es können auch andere psychische Belastungen die Folge sein, schwere Depression, Suizidfantasien, Drogenabhängigkeit oder Alkoholismus. Und man muss auch sagen: Es gibt auch Menschen, die verfolgt wurden und so widerstandsfähig sind, dass sie kaum Symptome entwickeln – oder erst später. Darum wäre es schlimm, wenn man die sozusagen zur Strafe dafür, dass sie im Grunde überlebende Helden sind, auch noch bestrafen würde, indem man sagt: "Du hast keine posttraumatische Belastungsstörung, du kannst zurück."

STANDARD: Gibt es kulturspezifisch unterschiedliche Arten des Umgangs mit Traumatisierungen?

Ottomeyer: Wir haben festgestellt, dass unsere westliche Definition von Trauma nur teilweise die Störungsbilder und Leidenszustände von Menschen aus anderen Weltgegenden erfasst. Unser Traumakonzept hat ja zwei historische Ursprünge: die Störungen der Vietnamsoldaten und Gewalt gegen Kinder und Frauen in Familien.

STANDARD: Was zeichnet die westlichen Symptomgruppen aus?

Ottomeyer: Zuerst ein Erlebnis, wo die körperliche Integrität und das Leben von Menschen zerstört oder beeinträchtigt wurden – auch als Zeugenschaft. Es reicht, wenn jemand sieht, dass einem anderen die Gliedmaßen abgehackt wurden. Als Folge gibt es intrusive Symptome, das sind Albträume, schlimme Erinnerungen, die einen tagsüber überfallen, die berühmten Flashbacks, wo der Betroffene auf einmal so reagiert, als wäre er wieder in der alten Situation. Dazu kommen Vermeidungssymptome. Das geht so weit, dass manche gar nicht mehr fernsehen, weil immer Bilder von Gewalt und Krieg gesendet werden. Die dritte Symptomgruppe ist die Übererregung. Der Körper ist in einem dauernden Alarmzustand, so als würde man im Auto gleichzeitig auf Gaspedal und Bremse treten. Die Menschen sind übermäßig wachsam, können nicht einschlafen und werden auch leicht körperlich krank.

STANDARD: Welche Symptome kommen in anderen Kulturen dazu?

Ottomeyer: Man hat zum Beispiel lange etwas abfällig über das "Balkansyndrom" gesprochen, also dass sich Menschen dort sehr stark über die Körpersprache äußern. Da hat jemand vielleicht Herzschmerzen, der Internist findet nichts, ihm ist gewissermaßen das Herz gebrochen, deshalb spürt er, wie es unregelmäßig arbeitet. Oder dass Menschen an einer bestimmten Stelle ohnmächtig umfallen. Das passiert bei westlichen Patienten sehr selten. Manche Leute aus Westafrika fühlen sich verhext. Man muss das bei jeder Person neu ergründen. Dann sieht man oft einen szenischen Zusammenhang zwischen Symptomen und dem, was erlebt wurde.

STANDARD: Können Sie dafür ein konkretes Beispiel schildern?

Ottomeyer: Ein zehnjähriges Mädchen aus Afghanistan hatte Augenschmerzen, die Augen tränten auch, der Augenarzt untersucht, dann fragt man nach, wann hat das angefangen? Als der Hund der Unterkunftsbetreiberin das Kind – vermutlich spielerisch – angesprungen hat, ist es umgefallen und hatte wahnsinnige Angst. Auf die Nachfrage, was war auf der Flucht, zeigte sich in dem Fall, dass die Schlepper die Leute unterwegs in einem Lager eingesperrt haben, und um den Zaun lief ein großer, gefährlicher Hund herum, vor dem alle Angst hatten. Das Kind hat das irgendwie tapfer durchgestanden, und dann passiert so etwas, das diese traumatische Situation wieder lostritt.

STANDARD: Was ist das Wichtigste, das traumatisierte Flüchtlingskinder brauchen, um gut im neuen Leben, das ja trotzdem mit Unsicherheit verbunden ist, anzukommen?

Ottomeyer: Das Wichtigste ist, dass sie keine Trennungsangst erleben. Das hat schon Anna Freud herausgefunden. Die Kinder, die im Zweiten Weltkrieg in England bei den Bombardements durch die Deutschen bei ihren Müttern bleiben konnten, haben das viel besser durchgestanden als Kinder, die man sozusagen zu ihrer Schonung aufs Land verschickt hat. Wenn die Mütter zusammenbrechen oder ausfallen, wird es für die Kinder schlimm. Also niemals die Kinder von den Müttern trennen bzw. die Mütter so freundlich und gut behandeln, dass sie trotz allem eine gewisse Ruhe und Gelassenheit, ein entspanntes soziales Feld um das Kind herum pflegen. Und die Kinder brauchen sehr schnell einen strukturierten Alltag, also wenn möglich Schule oder auch Kindergarten.

STANDARD: Kann man auch zu viel machen? Die Kinder also zu offensiv mit ihrem Trauma ansprechen?

Ottomeyer: Ja, man kann das Kind durch eine Traumadiagnose herausstanzen oder herausetikettieren aus seiner Umgebung und wie ein exotisches Wesen behandeln. Das ist eher schädlich, weil man das Kind isoliert. Das führt vor allem dazu, dass die anderen Kinder eifersüchtig werden. Da sind sie wie die Erwachsenen. Die schimpfen: "Frau Lehrerin, du hast die ja viel lieber als uns." Dann wird der Betreffende dafür traktiert.

STANDARD: Was sind Trauma-Hauptsymptome bei Kindern?

Ottomeyer: Kinder zeigen oft repetitives Spielverhalten. Sie spielen immer wieder dasselbe in Anlehnung an die traumatische Szene in der unbewussten Hoffnung, dass eine Lösung gefunden wird. Buben malen dann möglicherweise immer wieder Panzer und zerfetzte Leiber. Das ist Teil der Selbstheilung. Manche Kinder spielen auch gar nicht mehr vor lauter Verzweiflung oder Lähmung. Oft tritt ein Verlust der Unbefangenheit und Lebensfreude ein. Oder Kinder werden parentifiziert, müssen für die Eltern übersetzen, fühlen sich zuständig für deren Seelenzustand. Das kann sie überfordern. Sie sind dann manchmal so kleine Familientherapeuten.

STANDARD: Apropos Ängste: Die gibt es auch dergestalt, dass viele Menschen jetzt sagen: "Ich habe Angst – so viele fremde Menschen, fremde Kulturen, fremde Religion" etc. Und sie haben das Gefühl, ihre Angst würde diskreditiert und von der Politik nicht ernstgenommen. Haben Sie Verständnis für diese Menschen bzw. diese Ängste?

Ottomeyer: Ja, wir haben manchmal auch Inländer in Psychotherapie, die vielleicht arbeitslos sind und selbst unter dem Verdacht stehen, sie seien Drückeberger und Sozialschmarotzer. Da platzt es manchmal heraus: "Die kriegen alles, und wir kriegen nichts. Die kriegen alles sofort, und wir müssen hart dafür arbeiten." Dieses Gefühl der Benachteiligung kann ich teilweise verstehen bei Leuten, denen es selbst nicht so gut geht. Da kommt Versorgungsneid auf. Neid ist da ein ganz wichtiges Thema. Neid gibt es übrigens auch zwischen Flüchtlingsgruppen. Die sind ja auch keine besseren Menschen als wir. Manche Ängste sind ja berechtigt. Es gibt eine Besorgnis, die man verstehen muss ...

STANDARD: Ich höre da schon ein "aber ..." folgen.

Ottomeyer: Ja, es gibt auch Ängste, die geschürt werden, wenn etwa Gerüchte über Vergewaltigungen oder Plünderungen unter die Menschen gebracht werden, die in Wirklichkeit nie passiert sind. Das ist etwas sehr Gefährliches, weil damit Angstfantasien gefördert werden, die in eine neurotische Angst führen, die Angst vor einem Phantasma. Das sind eigentlich innere Konflikte, die auf Flüchtlinge projiziert werden.

STANDARD: Ein Beispiel für so eine Angst scheint jene vor dem "testosterongesteuerten" muslimisch-arabischen Mann zu sein, der als Angstfigur jetzt nicht nur in diversen Online-Foren herumgeistert. Nun sind ja auch die österreichischen Männer nicht ganz frei von Testosteron ... Woher kommen solche Bilder?

Ottomeyer: Das ist ja wie aus dem psychoanalytischen Lehrbuch für den Maturajahrgang. Es schürt eine ödipale Unterlegenheitsangst gegenüber dem sexuellen Rivalen. Man hat die Fantasie: Diese jungen Männer nehmen mir nicht nur die Wohnung, den Arbeitsplatz weg, sondern auch noch die Frauen. Dieser sexuelle Neid verbindet sich dann mit der Fertilitätsfantasie, dass die ja viel fruchtbarer sind als wir, und wir sterben dann aus. Und dann gibt es noch den analsadistischen Komplex, indem man die Flüchtlinge mit dem in vielen Menschen offenbar unbewältigten Problem des Schmutzes und der Sauberkeit in Verbindung bringt. Sie werden als schmutzig fantasiert, auch dass sie Seuchen einschleppen usw. Dann geht's nur noch um Hygienemaßnahmen, das Hinausreinigen oder Hinausräuchern dieses Schmutzes. Eine gefährliche Rhetorik. (Lisa Nimmervoll, 31.10.2015)