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Schnittstelle zwischen real verorteter Trauer und virtuellem Gedenken: Mit dem QR-Code auf dem Grabdenkmal lassen sich Informationen über die Lebensgeschichte von Verstorbenen abrufen.

Foto: APA/Henning Kaiser

Es gibt vielerlei Arten, der Toten zu gedenken. Im Künstlerdorf Deia auf Mallorca finden die Besucher am Grab von Robert Ranke-Graves stets eine Flasche Whisky vor, aus der sie einen Schluck zu Ehren des 1985 verstorbenen britischen Schriftstellers (Ich, Claudius, Kaiser und Gott) nehmen können. Ähnlich verhält es sich am Grab eines anderen großen Whisky-Liebhabers, des irischen Dichtergiganten James Joyce, auf dem Friedhof Flundern in Zürich.

Vielleicht machen diese hochprozentigen Beigaben eine Beziehung, die sonst schwierig ist, kurzfristig leichter: die zwischen Lebenden und Toten. Rainer Maria Rilke meint zwar in seiner ersten Duineser Elegie, es sei ein Fehler der "Lebendigen", zwischen Lebenden und Toten zu stark zu unterscheiden. Aus Sicht der Engel bewohnten beide ein und dieselbe Sphäre: "Engel (sagt man) wüßten oft nicht, ob sie unter Lebenden gehn oder Toten."

In der prosaischen Wirklichkeit liegt zwischen Leben und Tod freilich noch ein Unterschied. Wer will und kann, unternimmt schon bei Lebzeiten den Versuch, sich für die Ewigkeit zuzurüsten und ein Bild von sich zu konstruieren, das er erinnert wissen möchte. Das fängt beim Begräbnis an.

Individualisierung

"Das Bestattungswesen ist prinzipiell ein beharrendes Gewerbe", meint Jürgen Sild, Geschäftsführer der 1907 gegründeten kommunalen Wien Bestattung. Dennoch bemerke man eine stetige Individualisierung der Kundenwünsche, der das Unternehmen, seit einer Novellierung der Gewerbeordnung im Jahr 2002 im Wettbewerb mit privaten Anbietern, Rechnung trägt. Die Bestattung Wien kann nicht nur mit Särgen und Urnen in allen Farben und Formen aufwarten, sondern auch mit einer "Diamantenbestattung", bei der ein symbolischer Anteil aus den Überresten des Leichnams in einem komplizierten Verfahren zum Edelstein transformiert wird. Aber auch Formen "virtuellen Gedenkens" treten immer häufiger in den Blickpunkt.

"Virtuelles Gedenken" umfasst vieles. Bei der Bestattung Wien kann man Parten auf ihre Website stellen lassen. Ebenso gehören die seit frühen Digitalzeiten bekannten "virtuellen Friedhöfe" dazu, Websites, auf denen Trauernde teils gratis, teils gegen Gebühr Informationen über Verstorbene der Nachwelt publik machen können.

Angesichts der zu erwartenden Entwicklungen sind solche Angebote fast rührend schlicht. Der an der Uni Furtwangen im Schwarzwald lehrende Soziologe Stefan Selke befasst sich seit langem als Medienexperte und Buchautor (Lifelogging, Econ) mit den gesellschaftlichen Auswirkungen, die der Trend zur digitalen Selbstvermessung zeitigen wird, auch beim virtuellen Gedenken.

Die enormen Datenmassen, biometrische Daten, Aufenthaltsdaten etc., die die Verstorbenen der Zukunft hinter sich lassen, werden völlig neue Formen des Gedenkens hervorbringen. In Kalifornien träumt man von interaktionsfähigen Avataren, dreidimensional in den Raum projizierten Repräsentationen von Verstorbenen, die auf Anfrage Details aus ihrem Erdenwallen preisgeben. "Der menschliche Leib verwandelt sich in einen Datenkörper", meint Selke, doch das damit verknüpfte Heils- und Ewigkeitsversprechen hält er für ethisch fragwürdig. Aufhalten lassen wird sich der Trend nicht. Ein Gesprächspartner der Firma Microsoft hat Selke versichert, dass er 2018 erste entsprechende Produkte auf dem Markt erwarte.

Ein Brückenschlag

Ein Kooperationspartner der Wien Bestattung ist der Wiener Unternehmer Egon Humer, der, wie Jürgen Sild meint, mit seiner Plattform Zur Erinnerung "einen Brückenschlag zwischen virtueller und realer Welt herstellt". Eine an Grabdenkmälern angebrachte Plakette aus edlem, mit einem QR-Code versehenem Augarten-Porzellan erlaubt es, per Handy auf einen Server mit zuvor gesammelten Informationen über Verstorbene zuzugreifen.

Humer hat in einem beruflichen Vorleben als Dokumentarfilmer gearbeitet und in den 1980ern und 1990ern etliche erfolgreiche, vielfach prämierte Filme gedreht, die von intensiver Beschäftigung mit dem Thema Erinnerung zeugen (Schuld und Gedächtnis, Emigration NY). Die Zur Erinnerung-Plattform empfindet er als Anknüpfung an seine frühere Arbeit mit anderen Mitteln.

Ein Vorteil dieser Form des Gedenkens liege darin, dass sie eine geordnete, kontrollierte Präsentation dessen ermöglicht, was ein Mensch von sich aus an die Nachwelt weitergeben will. Dazu komme ein sozialer Mehrwert. Denn wenn ein Erinnerungskorpus mit einer multiperspektivischen Sicht auf einen Menschen gewünscht wird, müssen Familienangehörige oder Freunde zusammenarbeiten, um ein möglichst plastisches Bild entstehen zu lassen: Erinnern als Kollektivprojekt.

Dass die modernen Digitaltechniken kommunikative Prozesse in Gang setzen können, kann auch Johannes Reiss, der Direktor des Österreichischen Jüdischen Museums, bestätigen. Reiss hat 1944 aufgenommene Fotos von später zerstörten Grabsteinen auf dem Friedhof im burgenländischen Mattersburg auf die OJM-Website gestellt; der folgende Informationsaustausch über das Internet erlaubte es, wertvolle Auskünfte über die Verstorbenen zu gewinnen. Eine betagte, nicht mehr reisefähige Dame aus Massachusetts konnte wenigstens über das Internet mit Zeugnissen ihrer Vorfahren in Kontakt treten.

Virtuelle Erinnerungskultur

Das Projekt ist auf den jüdischen Friedhof in Eisenstadt ausgeweitet worden (Präsentation am 8. November um 11 Uhr ebenda). Personen, die über keine speziellen genealogischen Vorkenntnisse verfügen, können sich vor Ort mit Hilfe von QR-Code und Handy rasch über die Lebensgeschichten der Verstorbenen informieren.

Egon Humer schreibt einer virtuellen Erinnerungskultur auch politische Bedeutung zu. Jemand zu sein, dessen gedacht wird, war früher ein Privileg der höheren Stände, meint er, von Adeligen, die Maler oder Dichter einspannten, um sich gegen das Vergessenwerden zu sichern. Heute steht es jedermann frei, an seiner digitalen Hinterlassenschaft zu arbeiten, was einer "Demokratisierung von Erinnerung" gleichkomme.

Soziologe Selke sieht das skeptischer. Wohl seien die neuen Gedenkmöglichkeiten "ein Faszinosum", er gibt aber zu bedenken, dass die schiere Menge von "autoethnografischen Daten" auch zur Banalisierung führen kann. Und er bringt das vom deutschen Philosophen Lambert Wiesing geprägte Begriffspaar "Genese" und "Geltung" ins Spiel: Die Genese, die Herstellung von digitalen Gedenkkonvoluten, sei eine immer leichter zu bewerkstelligende Sache; ihnen Geltung und Bedeutung zu verleihen, sei aber sozialer, kein technischer Akt. Auch beim "virtuellen Gedenken", meint Selke, spielt der menschliche Faktor die entscheidende Rolle. (Christoph Winder, 1.11.2015)