Machtmensch: Der türkische Staatschef Tayyip Erdogan (61) zeigt gern vier Finger, zuletzt beim Besuch in Brüssel. Sie sind das Symbol der ägyptischen Islamisten.

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Ankara/Wien – Auf Häuserfassaden und an Reklamewänden steht jetzt ein Slogan, der die Türken nur weiter in ihrer Frustration brüten lässt. "Du weißt es am besten, Türkei", sagen die Rechtsnationalisten den Wählern zwischen Istanbul und Gaziantep. Aber "Sen, Türkiye belirsin" lässt sich auch anders verstehen. Als "Wie du willst, Türkei", als eine Ohrfeige für die Wähler: Nur zu, stimmt noch einmal für die Kurden oder für die anderen Parteien und stürzt das Land noch tiefer in den Abgrund.

Nur fünf Monate liegen zwischen den Parlamentswahlen vom Juni und dem neuen Urnengang am Sonntag, doch die Türkei ist seither in Krieg und Terror geschlittert.

Der Anschlag auf eine Friedenskundgebung in Ankara Anfang Oktober mit 102 Toten hat die Spannungen im Land noch weiter verschärft. Warum ausgerechnet Kurden immer wieder zum Ziel von Terrorakten werden, obwohl ihre Partei, die HDP, doch ein Handlanger der PKK sei, der Terroristen der kurdischen Untergrundarmee, wie Staatschef und Regierung den Türken unentwegt einhämmern, kann die politische Führung nicht glaubhaft erklären. "Du weißt es am besten, Türkei" klingt nun hohl in den Ohren der Bürger.

Zweieinhalb Wochen hat die Justiz gebraucht, bis sie am Mittwoch feststellte, dass die Ankara-Attentäter tatsächlich nur im Auftrag der Terrormiliz Islamischer Staat gehandelt haben dürften – und nicht etwa mit Beteiligung der Kurden, wie die Regierung mutmaßte. Warum mitten in der Hauptstadt der schwerste Anschlag in der Geschichte der Republik passieren konnte, ist den Türken trotzdem nicht klar. "Die Leute können es nicht glauben", sagt Ilter Turan, ein renommierter Kommentator und Politikprofessor: "Sie versuchen, dem, was passiert ist, irgendeinen Sinn zu geben."

Herrschaft wankt

Tayyip Erdoğan, der dreimalige Premier und amtierende Staatspräsident, hat bei den Wahlen im vergangenen Juni eine Niederlage einstecken müssen. Die prokurdische linksliberale HDP trat erstmals als Partei an, übersprang die Zehnprozenthürde und nahm dadurch Erdogans konservativ-islamischer Partei erstmals in 13 Jahren die Mehrheit zur Alleinregierung. 276 Sitze bräuchte die AKP dafür am Sonntag mindestens. Doch alle Umfragen sagen den Wiedereinzug der Kurdenpartei von Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag voraus. Erdogan sieht einer neuerlichen Niederlage entgegen – trotz Bombenkrieg gegen die PKK und Ausschaltung kritischer Medien. Seine autoritäre Herrschaft käme dann ins Wanken.

"Er war derjenige, der zu Neuwahlen drängte und der im Grunde die Regeln der parlamentarischen Regierung verletzte, indem er nicht als neutraler Präsident agierte", sagt Ilter Turan.

Ahmet Davutoğlu, der Chef der Übergangsregierung und frühere Außenminister Erdoğans, dürfte über eine Koalition nicht unglücklich sein. Der eitle Politikprofessor würde gern mehr selbst regieren und nicht in allem vom "Palast" bevormundet werden, Erdoğans riesigem Amtssitz auf einer Anhöhe über Ankara. "Lasst mich nicht in der Hand von Kiliçdaroğlu und Bahçeli", sagte er trotzdem bei einer seiner Wahlkundgebungen. Eine große Koalition mit den Sozialdemokraten vom Kemal Kiliçdaroğlu scheint dabei weniger leicht für die AKP als ein Bündnis mit den rechtsgerichteten Nationalisten der MHP von Devlet Bahçeli. Eine solche Koalition würde aber auch die Fortsetzung des Kriegs gegen die PKK bedeuten und eine harte Linie gegenüber der kurdischen Minderheit. Keine Aussicht auf Entspannung im Land.

Traumatische Reaktion

"Alles, was wir tun, ist lachen", sagt Selin Nurlu, eine 25-jährige Istanbulerin, die für einen Headhunter arbeitet. Sie nennt es eine "traumatische Reaktion auf eine dramatische Situation". Einige gingen noch für ein oder zwei Nächte protestieren oder engagierten sich hier und da, sagt die junge Frau über das Leben im repressiven Klima der Türkei. "Aber anscheinend haben wir immer noch nicht genug, um zusammenzukommen und etwas zu schaffen wie während Gezi."

Zweieinhalb Jahre nach den Massenprotesten gegen Erdoğans Baupläne und die geplante Zerstörung des Gezi-Parks im Zentrum von Istanbul hat die Justiz noch einmal gerichtet. 244 Angeklagte sind zu Wochenbeginn wegen Sachbeschädigung und Widerstand gegen die Staatsgewalt zu Haftstrafen verurteilt worden. (Markus Bernath, 30.10.2015)