Wer jetzt beginnt, entlang der Nationalstaaten Zäune hochzuziehen, verrät die Idee einer europäischen Union und begräbt ein Friedensprojekt, für das es vor ein paar Jahren sogar noch den Nobelpreis gegeben hat. "In Vielfalt geeint" lautete der Wahlspruch der EU, aber die aktuelle Aussicht ist eine andere: In Neid, Angst und Zwietracht getrennt.

Einige Staaten in Europa haben solche Projekte bereits begonnen oder überlegen ebenfalls. Als Ungarn vor Monaten erst die Flüchtlinge durchwinkte und dann begann, einen Zaun aufzustellen, wurde das Nachbarland scharf kritisiert. In der jetzigen Ratlosigkeit angesichts der enormen Flüchtlingsbewegung fällt aber auch österreichischen Politikern nichts anderes ein, als einen Zaun an der Grenze errichten zu wollen. In weiterer Konsequenz, und das sollten sich die Verantwortlichen verdeutlichen, müsste man logischerweise auch über einen Schießbefehl an der Grenze diskutieren. Ja, das ist schockierend.

Dass die Flüchtlingsbewegungen kontrolliert und in geordnete Bahnen gelenkt werden müssen, steht außer Frage. Dass dieser ständige Strom in weiterer Folge gebremst und verlangsamt werden muss, erscheint aus heutiger Sicht auch logisch und notwendig. Es muss den europäischen Staaten zumutbar sein, die Flüchtlinge auch aufnehmen zu können. Dazu braucht es Kapazitäten, aber auch den politischen Willen. Einen unbegrenzten Zuzug wird Europa nicht schaffen können, auch Deutschland nicht.

Und wenn Deutschland erst einmal seine Grenzen dichtmacht oder zumindest die Aufnahme bewusst zurückdreht, dann haben die anderen Staaten auf der Fluchtroute ein Problem, mit dem sie bald nicht umgehen können werden. Das könnte in der Tat zu Unruhe und Aufruhr führen, bei den Flüchtenden gleichermaßen wie bei der ansässigen Bevölkerung. In Österreich, Slowenien, Kroatien, Mazedonien, Griechenland.

Wenn Europa als Gemeinschaft nicht in der Lage ist, diese Situation unter Kontrolle zu bringen und zu bewältigen, wenn jedes Land für sich beginnt, wieder Zäune – einen eisernen Vorhang – hochzuziehen, dann hat die Union als solche und dann haben die einzelnen Mitgliedsstaaten, die diese Union ausmachen, versagt. Das ist der Anfang vom Ende der EU.

Nichts von dem, was jetzt passiert, kommt überraschend. Die Zehn- und Hunderttausenden, die auf dem Weg sind, flüchten vor Kriegen und bewaffneten Auseinandersetzungen, die seit Jahren im Gang sind und die vielfach von anderen Staaten in ihren Ländern geführt werden. Diese Fluchtbewegungen waren und sind absehbar, im Großen wie im Kleinen. In der EU wird seit Jahren debattiert, wie damit umzugehen sei. "Hotspots", Aufnahmelager an den Außengrenzen, kontrollierte Registrierungen, solidarische Aufteilung, Quoten, Hilfe vor Ort – alles steht seit Jahren in politischer Diskussion. Ohne Ergebnis. Zu viele Eigeninteressen stehen einem solchen im Weg. Wenn dann – im Kleinen – die Verantwortlichen, die Minister, der Kanzler, die Landeshauptleute, überrascht und überfordert sind, wenn Flüchtlinge in größerer Zahl etwa am Grenzübergang Spielfeld auftauchen, dann ist zwischen politischer Fahrlässigkeit und bewusster Bösartigkeit nicht mehr zu unterscheiden.

Die Staaten der Europäischen Union können das Problem nicht gegeneinander lösen, sie müssen es miteinander lösen. Im Interesse der Flüchtlinge, vor allem aber auch im eigenen Interesse. (Michael Völker, 28.10.2015)