Um die Autonomie der Patienten zu stärken, wurden in den 1990er-Jahren Patientenanwaltschaften in allen neun Bundesländern eröffnet. Als Vorbild dienten Schweden und Norwegen.

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Eine zugenähte Wunde: Unbemerkt blieben die Holzspäne, die noch drinnen waren. Oder die unentdeckte Blinddarmentzündung, mit der ein Patient trotz größter Schmerzen wieder nach Hause geschickt wurde. Ein dumpfes Gefühl, seit der HNO-Arzt sein Instrument zu weit ins Ohr geführt hat. Eine tote Frau im Spital, weil die Behandlung ihres Brustschmerzes nicht rechtzeitig erfolgte. Es sind meist handgeschriebene, mitunter seitenlange Beschwerden auf dem Schreibtisch von Gerald Bachinger, die auf Bearbeitung warten.

Bachinger ist seit 1999 Patienten- und Pflegeanwalt für Niederösterreich und damit Anlaufstelle für alle, die glauben, falsch oder unzureichend behandelt worden zu sein, aber nicht gleich den Rechtsweg einschlagen wollen. "Vor Gericht sind oft die Positionen verhärtet, alles ist streng formalisiert. Urteile dauern mitunter sehr lang", sagt Bachinger.

Als Alternative und um die Autonomie der Patienten zu stärken, wurden in den 1990er-Jahren Patientenanwaltschaften in allen neun Bundesländern eröffnet, wie es sie außer in Schweden und Norwegen nirgendwo in einem vergleichbaren Umfang gibt.

Drei Viertel der Fälle sind Missverständnisse

Die Kosten werden von den Ländern getragen. Eingeführt wurden Patientenanwaltschaften auf massiven innenpolitischen Druck infolge des Pflegeskandals rund um die "Todesengel von Lainz": Vier Stationsgehilfinnen, die mindestens 49 Patienten mit Rohypnol vergiftet und getötet haben. So etwas sollte nie wieder passieren.

Bachinger, selbst Jurist, teilt sich sein Büro mit einem Allgemeinmediziner und neun Sachbearbeitern. Insgesamt bearbeiten sie knapp 1.500 schriftliche Anfragen im Jahr. Bei drei Vierteln der abgegebenen Beschwerden handelt es sich laut Statistik allerdings nicht um Behandlungsfehler, sondern meist um Missverständnisse. Das ist der Fall, wenn von ärztlicher Seite alles richtig gemacht und dem Protokoll gemäß durchgeführt wurde, es aber trotzdem zu unerwarteten Schmerzen, Schäden oder Komplikationen kommt. Bachinger: "Ein intensives Gespräch klärt meist alles."

Viele Grautöne

Ob tatsächlicher Behandlungsfehler oder nicht: Das Prozedere ist zunächst immer gleich. Der Erstkontakt erfolgt am Telefon oder mittels Beschwerdeformular aus dem Internet. Als nächster Schritt wird, mit Einverständnis des Patienten, das Krankenhaus, Pflegeheim oder der niedergelassene Arzt um den Krankenakt des Patienten sowie um eine Stellungnahme gebeten. Um ein möglichst schlüssiges Gesamtbild zu bekommen, werden zudem alle Vor- und Nachbehandler des Betroffenen eingeschaltet. Diese Erstprüfung klärt, ob am Verdacht des Patienten etwas dran sein könnte. Falls das verneint wird, steht immer noch der Rechtsweg offen – je nach Streitwert vor dem Bezirks- oder Landesgericht.

Eine Beschwerde dauert im Schnitt ein halbes Jahr, in extremen Fällen allerdings auch Jahre: "In der Medizin ist eins plus eins nicht immer zwei – es gibt viele Grautöne", sagt Bachinger. Wenn nötig, werden zunächst Gutachter, in besonders schwierigen Fällen auch die Schiedsstelle der Ärztekammer eingeschaltet. Am Ende steht idealerweise ein Vergleich, mit dem beide Seiten leben können, meist in Form eines Schmerzensgelds.

Kritische Stadtbewohner

Durchschnittlich beschwert sich in Niederösterreich einer von 992 behandelten Patienten – das Land liegt damit im Bundesländervergleich im Mittelfeld. Besonders im großstädtischen Bereich ist die Beschwerdefrequenz deutlich höher: "Städter sind in vielen Dingen kritischer. Aber auch die Anonymität spielt eine Rolle: In einer Stadt mit fünf Fachärzten ist man nicht so abhängig wie am Land, wo es im Umkreis von 50 Kilometern nur einen gibt", sagt Bachinger. Das zeigt auch die Statistik: Im Vergleich gibt es dreimal so viele Beschwerden über Spitäler wie über niedergelassene Ärzte – obwohl diese viel mehr Patienten behandeln.

Die Patientenanwaltschaften sind anerkannt als Einrichtung, die für beide Seiten gute Ergebnisse bringen. "Eines ist aber klar: Wir stehen gesetzlich auf der Seite der Patienten. Wir sind keine Mediatoren", so Bachinger. Das ist auch der wesentliche Unterschied zu den Ombudsleuten von Krankenhäusern und Versicherungsanstalten, die keineswegs unabhängig agieren. Von ihnen werden aber immer wieder Beschwerden auch an die Patientenanwaltschaften weitergeleitet – und umgekehrt, wenn es etwa um Lappalien wie kalte Suppen geht.

Verbesserungen am System

Am schwierigsten zu behandeln seien jene Beschwerden, in denen es um erkrankte oder verstorbene Kinder geht – "dann ist auch Trauerarbeit ein Teil des Jobs", sagt Bachinger. Besonders erfüllend wiederum seien jene Fälle, in denen aus dem Einzelfall eine Verbesserung für das gesamte System erwächst: So hätte etwa eine Frau wie gewohnt ihre Immunisierung gegen Bienengift erhalten, auf das sie allergisch reagiert. Allerdings nicht von ihrer Hausärztin, sondern einer Kurärztin.

Die Patientin wunderte sich noch über die blaue Farbe des Impfstoffs in der Spritze, doch die Ärztin winkte ab: Sie sei die Expertin, alles bestens. Im Nachhinein stellte sich heraus: Die vermeintliche Expertin hatte den Impfstoff gemeinsam mit einem separat abgepackten flüssigen Frostindikator, der die Einhaltung der Kühlkette überwachen soll, injiziert. Die Frau kam glimpflich davon, doch Bachinger sorgte dafür, dass der Fehler nie wieder passieren kann: Der flüssige Indikator wurde auf seine Intervention hin bei der Ages-Medizinmarktaufsicht durch einen festen ersetzt. (Florian Bayer, 28.10.2015)