Mutter (Seyneb Saleh, li.) und Tochter (Nikolaus Habjan) hegen in Bezug auf die Gäste ihrer Pension höchst ungesunde Absichten: Alber Camus’ "Das Missverständnis" im Volkstheater.

Foto: Lupi Spuma

Wien – "Das Herz nützt sich ab", sagt die Mutter in Albert Camus‘ Drama Das Missverständnis (1943). Scheinbar ohne großes Bedauern hat sie ihren Sohn vor über zwanzig Jahren an die Ferne verloren. Geblieben sind ein graues Leben und eine sich um die Freiheit betrogen fühlende Tochter. Um sich zu nehmen, was ihnen vorenthalten blieb: ein freudvolles Leben, am besten irgendwo am Meer, lukrieren die beiden Geld auf makabere Weise. Die Gäste ihrer abseits gelegenen Pension verlassen die Herberge stets unfreiwillig, beraubt und kopfüber über die Klippe.

Wie Hitchcocks Psycho-Villa thront das Verderben bringende Haus in Nikolaus Habjans Inszenierung am Horizont einer abschüssigen Rampe. Die seit Freitag zum Volkstheater-Repertoire gehörende Arbeit stammt aus Anna Badoras vorzüglicher Erbmasse vom Schauspielhaus Graz. Bereits mit einer Nestroy-Preis-Nominierung bedacht ist Das Missverständnis das Produkt einer genialen Idee: Puppe und der sie führende Schauspieler ergeben zusammen jeweils eine Figur. Die Gesichtsdopplung steht für das zweigleisige Verhalten der Protagonisten: die Fassade einerseits, dahinter die verborgenen Absichten andererseits.

Dass sich unter den Pensionsgästen – und dabei ebenfalls versteckt hinter dem Antlitz einer Klappmaulpuppe – eines Tages der heimkehrende Sohn befindet, ist die wahre Tragik dieses von Camus im besetzten Paris geschriebenen Krimidramas. Leichtigkeit und Heiterkeit von Mördergeschichten wie Arsen und Spitzenhäubchen sind ihm fern.

Mit Suspense-Musik führt die Inszenierung in das kühle, taubenblaue Innere des Gebäudes, das in beängstigender Schieflage im Bühnenboden steckt, als sänke es allmählich in den Morast. Hier drinnen (man hat das Haus wie alte Möbel von riesigen Leintüchern freigelegt) atmen Mutter (Syneb Saleh) und Tochter (Nikolaus Habjan) die verpestete Luft ihrer Existenz, gleiten bleichgesichtig, in wehenden schwarzen Kleidern über die Tischkante der Rezeption, um sich mit verkrüppelten Fingern emsig am Gästebuch zu schaffen zu machen. Später wird die Tochter dem Gast (Florian Köhler) Tee anbieten.

Unberechenbare Puppen

Das Missverständnis lässt wie kein anderes Stück in diesem Wiener Theaterherbst die Dämonen los. Die Inszenierung, an Stummfilmzeiten gemahnend, handelt mit Behauptungen des Grusels, die mit leibhaftigen Schauspielern allein heute kaum mehr zu halten wären. Das geisterhafte, beängstigende Eigenleben der Puppen, ihre stets leicht glasigen Augen, die eruptiven, vom Taumel der bevorstehenden Tat ungelenken Bewegungen und Deformierungen beglaubigen Sekunde um Sekunde die zu befürchtende Katastrophe.

Nikolaus Habjan, der Puppenbauer und -spieler vom Schubert-theater, der schon Jelinek- und Shakespeare-Lookalikes für das Burgtheater kreiert und geführt hat, trifft mit seinem Konzept voll ins Schwarze. Es gelingen ihm mit filigranen Bewegungen im Zusammenspiel von Puppen- und Schauspielerkörper nicht nur bezwingende Interpretationen eines kaputten Lebens, sondern auch bildnerische Meisterstücke:

Etwa wenn sich die Mutter mit der nie ganz weichenden Sorgenfalte einer Erziehungsberechtigten über das zur Routine gewordene Töten in den Fauteuil an der Rampe niederlässt, die Beine (der Schauspielerin) übereinanderschlägt und ihre hexenhaften Puppenfinger darauf ablegt und zu zweifeln beginnt. Das knistert. Die über Mikrofone leicht entrückte "Tonspur" der Camus’schen Sprache tut das Ihrige dazu. (Margarete Affenzeller, 27.10.2015)