In außergewöhnlichen Zeiten sind außergewöhnliche Maßnahmen gefragt." Mit diesem Satz hat Angela Merkel beim jüngsten Sondertreffen den Nagel auf den Kopf getroffen.

Die deutsche Kanzlerin wollte damit begründen, warum dieser außerordentliche "Minigipfel" ausgesuchter EU-Staaten mit Serbien, Mazedonien und Albanien, aber ohne die Schwergewichte Frankreich und Italien durchaus seinen Sinn habe; wenn tausende Menschen auf der Balkanroute bei Temperaturen hart am Gefrierpunkt auf dem Boden schlafen müssen und hunderttausende nachströmen, dann müsse man sich eben auch in Formationen treffen, die in keinem EU-Vertrag oder sonst wo vorgesehen sind.

Dann müssten Entscheidungsträger eben etwas improvisieren, um schnelle praktische Lösungen zu finden.

So wie mit ihrem berühmten Satz "Wir schaffen das!" zum großen Zustrom von Flüchtlingen via Ungarn Anfang September hat sie damit aber auch in einem allgemeinen Sinn zusammengefasst, worauf es in den nächsten Wochen und Monaten ankommen wird. Es steht Spitz auf Knopf.

Es zeichnet sich – nicht nur in Deutschland – eine tiefe politische Krise beim Umgang mit den Flüchtlingen aus den Kriegs- und Krisengebieten im Nahen und Mittleren Osten ab, die die Union vor eine echte Zerreißprobe stellt, die sie die Existenz kosten könnte.

Und in vielen Ländern sind die Rechtspopulisten im Vormarsch, die gegen die Flüchtlinge, gegen "die Ausländer" ebenso hetzen, wie sie ganz unverblümt propagieren, "diese EU" abzulehnen und zerstören zu wollen.

Der Wahlsieg der rechtsnationalen PiS in Polen bestätigt diesen Trend, den der ungarische Premier Viktor Orbán (in Brüssel zuletzt fast mit triumphierendem Unterton) oder die FPÖ in Österreich stetig anfeuern.

In Frankreich könnte die Chefin des extrem rechten Front National (mit dem die FPÖ im EU-Parlament in einer Fraktion sitzt) bei den Regionalwahlen das Amt eines Präsidenten in der Region Nord-Pas-de-Calais-Picardie erringen, was eine Premiere wäre. In Umfragen liegt sie gut, und ihre politischen Gegner reiben sich in Flügelkämpfen auf.

Die Versuche des konservativen Premiers David Cameron, für sein Land in der EU die eine oder andere Sonderregelung herauszureißen, erscheinen demgegenüber fast wie patriotischer Kinderkram.

Merkels Warnung vor den außergewöhnlichen Zeiten und Maßnahmen sollte die Bürger darauf vorbereiten, dass sie auf ein Normalprogramm oder gar auf ein baldiges Ende der Flüchtlingskrise nicht hoffen können.

Wollen die Europäer – ob EU-Bürger oder nicht – diese größte humanitäre Herausforderung seit Jahrzehnten (vielleicht sogar seit den großen Flüchtlingstrecks nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs) erfolgreich bewältigen, dann brauchen alle einen langen Atem. Und eine neue Bewusstseinsbildung, dass solche Krisen nicht durch einfache Zaubertricks, schon gar nicht durch Spaltung und neuen Nationalismus zu lösen sind.

Als stärkste Verbündete für Merkel erweisen sich nun ausgerechnet Jean-Claude Juncker und die EU-Kommission, die die Kanzlerin in der Griechenland-Krise auflaufen ließen. Juncker ist für kreative Lösungen, aber auch für ein unbedingtes Bekenntnis zum Prinzip der Gemeinschaftlichkeit berühmt. Eine neue Achse ist entstanden. Gut, dass Österreich dabei mitmacht. (Thomas Mayer, 27.10.2015)