"Die spinnen alle hier", sagt Ahmed, ein 38-jähriger Sudanese, der seit einem Jahr in Seoul, der Hauptstadt Südkoreas, lebt. Er liebt die lebhafte Weltmetropole, die für mehr als zehn Millionen Menschen Heimat ist und damit Städte wie New York oder London in den Schatten stellt. An die Koreaner muss er sich aber erst gewöhnen. "Das sind keine Menschen, das sind Maschinen. Die machen nichts anderes, als im Büro zu sitzen." Er selbst arbeite für eine ausländische Firma und gehe um 18 Uhr abends nach Hause. Koreaner blieben hingegen regelmäßig bis 22 Uhr im Büro.

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Hunderte junge Koreaner bei der Aufnahmeprüfung für die Hanyang-Universität in Seoul.
Foto: EPA/Yonhap

Und in der Tat, wer sich mit Koreanern verabredet, bekommt immer wieder dieselbe Nachricht aufs Handy. "Hänge im Büro fest, verspäte mich!" In der sehr hierarchischen Gesellschaft Koreas gehört es zum guten Ton, das Büro erst nach dem Chef zu verlassen. Während die Politik in Österreich etwa darüber debattiert, ob es sich die Menschen nicht zu gemütlich in ihrer Hängematte machen, ist es in Korea genau andersrum. Das zeigt sich etwa an Mu-Song Lim, einem hohen Beamten des südkoreanischen Arbeitsministeriums. Auf seine Visitenkarte hat er in dicken, lila Lettern "Work-Life-Balance means Happiness!" gedruckt. Sein Job ist es, den Menschen klarzumachen: Auch Freizeit macht Spaß.

Die Koreaner arbeiten nämlich nicht nur viel mehr als fast alle anderen Menschen der Welt. Sie sind auch relativ unproduktiv, denn nach zwölf oder 13 Stunden Arbeit lässt die Konzentration zwangsläufig nach. "Das ist ein Riesenproblem", sagt Lim im Gespräch mit dem STANDARD. Doch Lim macht sich nicht nur Sorgen um die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Landes, sondern um die Koreaner selbst.

Denn sie gelten als eines der unglücklichsten Völker der Welt, die Jugend einer Befragung zufolge gar als die unglücklichste in der OECD. Das Land hat nach Litauen die zweithöchste Selbstmordrate der Welt, im Jahr nehmen sich 15.000 Menschen das Leben, in Relation zur Bevölkerung mehr als doppelt so viele wie in Österreich. Nirgends bekommen Frauen so wenige Kinder.

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Der ehemalige Diktator Chung-hee Park mit seiner Tochter, der jetzigen Präsidentin Geun-hye Park, im Jahr 1977.
Foto: AP

Doch wie konnte es so weit kommen? Was macht so viele Menschen derart unzufrieden? Wer eine Antwort darauf finden will, muss einige Jahrzehnte zurückblicken. Vor 50 Jahren stand das Land vor dem Nichts. Über Jahrzehnte von Japan besetzt und ausgebeutet, ist der letzte Rest des Landes im Koreakrieg Anfang der 1950er zerstört worden. Damals griff Nordkorea den Süden an, ein Stellvertreterkrieg zwischen der Sowjetunion, China und dem Westen kostete Millionen von Menschen das Leben, das Land wurde fast komplett zerstört.

In den frühen 1960ern war Südkorea dann ärmer als Haiti oder Äthiopien. In den nächsten Jahrzehnten sollte aus dem Nichts dann aber eines der größten Wirtschaftswunder entstehen, das die Erde je gesehen hat und daraus Weltkonzerne wie Samsung, LG oder Hyundai hervorgehen. Der lang regierende Diktator Chung-Hee Park, Vater der jetzigen Präsidentin Südkoreas, trat Menschenrechte mit Füßen, trieb aber die Bildung der Koreaner massiv voran und setzte mit Fünfjahresplänen voll auf den Exportsektor. Heute ist das Land einer der Vorreiter bei neuen Technologien, dem Automobilsektor oder der Stahlindustrie, seit 1987 auch eine Demokratie.

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Touristen spazieren unter Regenschirmen am Cheonggye-Strom.
Foto: ap / young-joon

Geht es nach Andreas Schirmer, Universitätsassistent für Koreanologie an der Uni Wien, ging die wirtschaftliche Entwicklung aber zu schnell vor sich. "Die Koreaner spielen selbst gern damit, das extremste Volk der Welt zu sein", sagt Schirmer. Der demografische Wandel, für den Frankreich 150 Jahre gebraucht habe, sei in Korea in wenigen Jahrzehnten vollzogen worden. "Das ging mental zu schnell." In der koreanischen Gesellschaft gehe es außerdem weniger um das Glück des Einzelnen, sondern mehr um den Aufstieg der ganzen Nation. "Die Entwicklung unter der Diktatur verlangte viele Opfer", sagt Schirmer. "Arm waren die Koreaner wohl oft glücklicher als auf ihrem Durchmarsch zu den reichen Ländern dieser Erde."

Der Psychologieprofessor Uchiol Kim von der koreanischen Inha-Universität sieht sein Land vor dem sozialen Abgrund. Die Rollenverteilung in Korea ist recht traditionell, der Mann verdient das Geld, geht nach der Arbeit mit Kollegen trinken, die Frau kümmert sich um Haushalt und Finanzen, die Kinder gehen nach der Schule noch stundenlang zur Nachhilfe. "Jeder konzentriert sich auf sein Ding. In Korea basieren soziale Beziehungen darauf, dass man sich füreinander aufopfert." Das führe zu Stress, der Druck sei enorm. Wer Erwartungen über längere Zeit nicht erfülle, laufe Gefahr, depressiv zu werden.

Koreanische Schüler gehören in den Pisa-Tests zu den besten der Welt. 70 Prozent der 25- bis 34-Jährigen haben heute einen Uniabschluss. Südkorea hat viel zu bieten, es gibt kaum Kriminalität, die Arbeitslosigkeit ist so niedrig wie sonst nirgends in der OECD. "Wenn man in Korea ganz oben ist", sagt Kim, "dann hat man ein gutes Leben."

Wer aber oben ankomme, behandle die Leute unter sich oft ganz schlecht. Das sei mit ein Grund, warum jeder nach oben wolle. Wer scheitert, fällt dann manchmal tief. Denn auch das soziale Netz betreffend ist Korea extrem. Die Staatsausgaben für Pensionisten, Arbeitslose und sozial Schwache sind in der ganzen OECD einzig in Mexiko niedriger. Österreich gibt dreimal so viel für Soziales aus. (Andreas Sator aus Seoul, 27.10.2015)

Korrektur am 11.11.2015: Andreas Schirmer von der Uni Wien wurde falsch zitiert. In der ersten Version des Artikels hieß es: "Arm waren die Leute wohl glücklicher als jetzt." Schirmer sagte eigentlich: "Arm waren die Koreaner wohl oft glücklicher als auf ihrem Durchmarsch zu den reichen Ländern dieser Erde." Wir bitten um Entschuldigung.