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Keine "dritten Wege", Westintegration um jeden Preis: Kanzler Konrad Adenauer.

Archivbild 1961: AP

Seit fast sechs Jahrzehnten befassen sich Historiker mit der Geschichte des österreichischen Staatsvertrages und der Neutralität. Den deutsch-österreichischen Beziehungen wurde keine oder kaum Aufmerksamkeit gewidmet. Besonders verwunderlich ist, dass so gut wie nicht danach gefragt worden ist, was "Modellfall" bzw. das "Muster Österreich" für Deutschland eigentlich bedeutete. Diese Lücke füllt Michael Gehler jetzt sehr ausführlich für die Jahre von 1945 bis 1955 auf knappen 1400 Seiten.

Gehler zeigt anhand zahlreicher Dokumente, dass Konrad Adenauer prinzipiell jegliche Lockerung des westlichen Lagers durch die Entstehung neutraler Staaten als eine Sowjetverschwörung ablehnte. Der deutsche Kanzler sah darin den Versuch, den westlichen Block zu schwächen und schließlich in die kommunistische Machtsphäre einzugliedern.

Adenauer wollte die Westintegration um jeden Preis – auch für den Preis der Teilung. Tatsächlich war Westintegration für Adenauers Politik absolut vorrangig und die deutsche Einheit nachrangig. Der deutsche Bundeskanzler betrachtete deshalb die österreichische Neutralität mit Argwohn und sah in ihr eine sowjetische Verschwörung, um letztlich auch Deutschland zu "neutralisieren". Für Österreich bedeutete Neutralität Unabhängigkeit, für Adenauer aber ein negatives Vorbild für Deutschland. Michael Gehler kommt zu dem Schluss, dass die Ablehnung des "Modellfalls" Österreich durch Adenauer nicht akademisch-wissenschaftlich fundiert, "sondern "ideologisch-politisch motiviert" war.

Umgekehrt hatte der österreichische Kanzler Julius Raab den "Modellfall Österreich" für Deutschland nicht ausgeschlossen, übte aber gegenüber Adenauer im Sinne christdemokratischer Parteikooperation Zurückhaltung. Für die deutsche Regierung waren "dritte Wege" wie Bündnis- oder Blockfreiheit und Neutralität tabu. Der deutsche Kanzler war aber froh, dass er "dem Neutralitätsdrachen den Kragen umgedreht" hatte. Gustav Heinemann, der aus Protest gegen die Remilitarisierungstendenzen Adenauers als Innenminister zurückgetreten war und die CDU verlassen hatte, sah in Österreichs Neutralität und Bündnisfreiheit durchaus ein zumindest zeitweiliges Modell für Deutschland.

1954 und 1955 entwickelten die USA hingegen bereits ein sehr differenziertes Bild von Neutralität. Deren internationaler Stellenwert wurde nicht von vorneherein abgelehnt, sondern auf Praktikabilität, Tauglichkeit, Haltbarkeit und Solidarität überprüft. Neutrale Staaten wurden nicht voreilig als Untertanen einer dritten Macht, die unter und kommunistisch-sowjetische Abhängigkeit geraten würden, betrachtet. Gleichwohl war man sich in Washington im Klaren, dass Neutralität sowjetischen Sicherheitsbedürfnissen entgegenkommen würde.

Gehlers Argument ließe sich nahtlos über seine untersuchte Periode hinaus fortsetzen. Die Debatte über das Modell Neutralität ging weiter. 1955 verteidigte US-Präsident Dwight Eisenhower, dass mit Österreichs bewaffneter Neutralität "nicht eine militärische Leere" entstehen würde. 1956 sagte er:

"Heute gibt es einige Staaten, die sich als neutral bezeichnen. Das bedeutet keineswegs notwendigerweise, wie so oft gesagt wird, neutral zu sein zwischen richtig und falsch oder anständig oder unanständig. Diese Staaten beziehen den Begriff 'neutral' auf ihr Verhältnis zu Militärbündnissen. Und ich möchte betonen, dass ich darin keinen Grund sehe, dass das immer zu unserem Nachteil sei."

Während der Ungarnkrise 1956 drohte das US-Außenministerium sogar, dass "ein Angriff der Sowjetunion auf Österreichs Neutralität den dritten Weltkrieg bedeuten" würde.

Vorschläge zur Neutralität in Mitteleuropa verstummten nicht. George K. Kennan, der nach 1947 als US-Botschafter in Moskau das Konzept der Eindämmungspolitik entwickelte, schlug 1956 und 1957 eine Neutralität Zentraleuropas und eines vereinigten Deutschlands vor, weil er insgesamt nicht an die Haltbarkeit der Teilung Europas und Berlins glaubte. Kennan begrüßte, dass Schweden nicht dem Atlantikpakt Nato beigetreten ist, dass die Schweiz ihre traditionelle Neutralität gewahrt hat und Österreich neutral wurde und dass sich Jugoslawien weder an den Westen noch an den Osten gebunden hat.

Die US-Senatoren Hubert H. Humphrey und William F. Knowland arbeiteten ebenfalls Vorschläge über eine neutrale Zone in Mitteleuropa aus. Humphrey regte die Schaffung einer Pufferzone bei gleichzeitigem Rückzug amerikanischer und sowjetischer Truppen aus West- beziehungsweise Ostdeutschland an.

Knowland wollte ein vereinigtes Deutschland in die Reihe der anderen neutralen Staaten Österreich, Finnland, Schweden und die Schweiz eingliedern. Die sowjetischen Satellitenstaaten sollten aus dem Warschauer Pakt austreten und ebenfalls neutral werden. Der Vorsitzende der britischen Labour Party Hugh Gaitskell entwickelte ähnliche Vorschläge. Alle diese Ideen gingen im Gegensatz zu Adenauer davon aus, dass Neutralität für Deutschland auch ohne kommunistische Machtergreifung möglich gewesen wäre. Österreich ist ein Beispiel dafür. (Heinz Gärtner, 26.10.2015)