Wien – Ein äußerst brutaler Übergriff auf einen Mann, der sich bei der U-Bahn-Station Ottakring durch ein schreiendes Kind gestört fühlte, ist am Mittwoch vor einem Wiener Schwurgericht verhandelt worden. Ein 20-Jähriger musste sich wegen Mordversuchs verantworten, weil er dem 37-Jährigen bei der Attacke auch mehrmals auf den Kopf gesprungen war. Der junge Mann legte ein Tatsachengeständnis ab.

"Ich hab ihn verletzt, das tut mir natürlich leid", sagte der 20-Jährige vor dem Schwurgericht (Vorsitz: Beate Matschnig). "Er bereut das zutiefst", meinte sein Anwalt Markus Tschank, "aber er wollte das Opfer nicht töten". Sein Stiefvater, der bei dem Vorfall im Mai dabei war und ihn unterstützte, indem er ebenfalls auf den 37-Jährigen einschlug, war wegen absichtlicher schwerer Körperverletzung als Beitragstäter angeklagt.

Die beiden Männer waren am Abend des 17. Mai mit dem zweijährigen Stiefbruder des 20-Jährigen bei einer Tankstelle, um dort eine Flasche Wein zu konsumieren. Am Rückweg trafen sie bei der U3-Station Ottakring auf den 37-Jährigen, der sich durch das Weinen des Kindes gestört fühlte. Nach Angaben der Angeklagten soll der Mann gemeint haben, "der Kleine soll still sein, sonst nehm' ich ihm die Zunge raus".

Das hatte den 20-Jährigen so in Rage versetzt, dass er dem 37-Jährigen, der den Ort des Geschehens bereits wieder verließ, nachging, um ihm zunächst von hinten zu attackieren, sodass dieser bei einer Wiese bei der Huttengasse über einen Zaun fiel. "Dann hagelte es Faustschläge und Tritte", stellte die Staatsanwältin fest.

Laut Anklage ließ der 20-Jährige auch nicht von dem Mann ab, obwohl dieser bereits am Boden lag und vor Schmerzen schrie. Zeugen beobachteten, dass der junge Mann weitermachte, obwohl der 37-Jährige gar nicht mehr bei Bewusstsein war. Er soll laut Staatsanwaltschaft an die vier Mal aus dem Stand heraus auf den Kopf seines Opfers gesprungen sein, was der 20-Jährige in Abrede stellte. "Ich habe 90 Kilo. Wenn ich da auf seinen Kopf springe, dann ist er meiner Meinung nach tot", sagte der Angeklagte.

Zeugen hatten laut Anklage gemeint, sie hätten geglaubt, der Kopf des Attackierten sei "zerplatzt" und er würde gar nicht mehr am Leben sein. Der 37-Jährige erlitt zahlreiche Knochenbrüche, u.a. eine Fraktur des Kiefers und des Jochbeins. "Es ist ein Riesenglück, dass das Opfer überlebt hat", meinte die Staatsanwältin.

Denn nicht nur der 20-Jährige, auch sein Stiefvater soll auf das wehrlose Opfer eingeschlagen haben, während der zweijährige Bub einfach im Kinderwagen in der Nähe des Tatortes abgestellt wurde. "Es tut mir leid, dass ich meinen Sohn unbeaufsichtigt gelassen habe", meinte der mitangeklagte Stiefvater. "Es ist eher schlimm, dass das Kind das mit ansehen musste", sagte Richterin Matschnig.

Die Zeugen hatten den 20-Jährigen vor weiteren Übergriffen abgehalten, obwohl er sich weiter aggressiv verhielt und schrie: "Das machst du mir nicht mehr. Das war das letzte Mal!" Die Verhandlung wurde mit den Gutachten zahlreicher Sachverständigen sowie Zeugeneinvernahmen fortgesetzt und soll noch am Mittwoch mit einem Urteil zu Ende gehen.

Opfer kann sich an nichts erinnern

Das Opfer kann sich an die Schläge und Tritte, die es erhalten hatte, nicht mehr erinnern. Dass es zuvor zwischen den Männern und dem 37-Jährigen zu einer verbalen Auseinandersetzung wegen der Schreie des Kindes gekommen sein soll, verneinte der Zeuge. "Ich hab selber drei Kinder, das stimmt nicht", sagte der 37-Jährige.

Der Mann war am Nachhauseweg vom Life Ball, wo er als freiwilliger Helfer im Einsatz war. Ob der Übergriff wegen seines Äußeren – am Life Ball trug er goldenes Bodypainting, auch seine Fingernägel waren noch golden lackiert – geschah, konnte der 37-Jährige nicht sagen. Die Männer hätten ihm gegenüber aggressiv reagiert und ihn auf slowakisch angesprochen. Daraufhin meinte er, dass er die Sprache nicht verstehe.

Er ging mit Kopfhörern im Ohr Richtung Thaliastraße: "Ab da weiß ich gar nichts mehr." Seine Erinnerung setzte erst am nächsten Tag im Spital wieder ein. Life Ball-Organisator Gery Keszler, der den 37-Jährigen auch im Krankenhaus besucht hatte, wohnte nun als Zuhörer dem Prozess bei.

Aufgrund der Jochbein- und Kieferbrüche musste der 37-Jährige mehrere Operationen über sich ergehen lassen. Sechs Wochen lang konnte er sich nur mit Flüssignahrung über einen Strohhalm ernähren. "Ich habe in den ersten zwei Wochen viel geschlafen", meinte der 37-Jährige. Bis heute leidet er unter Kopfschmerzen. Vor einigen Wochen war ihm zudem ein Schneidezahn ausgefallen. Er schloss sich dem Verfahren mit einem Schmerzengeldbetrag von 7.590 Euro an, wie sein Rechtsvertreter Philipp Winkler ausführte.

Der gerichtsmedizinische Gutachter Christian Reiter konnte seine Expertise erst über einen Monat nach dem Vorfall beginnen, da vonseiten der Staatsanwaltschaft zunächst ein Bestellungs-Beschluss fehlte. Aufgrund der Ausführungen des Spitals habe der 37-Jährige stumpfe Gewalteinwirkung gegen die rechte Gesichtshälfte erlitten, referierte Reiter. Jochbein, Augenhöhle sowie das Kiefer waren betroffen. Schürfwunden, wie es bei Tritten üblich ist, konnte der Gutachter allerdings keine mehr feststellen. Auf einem Foto, das Reiter erst am Mittwoch vorgelegt wurde, konnte er eine "kleine braune Vertrocknung über dem Jochbein" erkennen, das "eventuell durch einen Tritt entstanden ist", sagte der Mediziner. Lebensgefahr bestand keine und das Opfer habe auch keine schweren Dauerfolgen erlitten.

Die psychiatrische Gutachterin Gabriele Wörgötter bezeichnete den 20-jährigen Angeklagten als eine "sehr unreife Persönlichkeit", die sich stark und wichtig vorkommen möchte. Für den jungen Mann sei die Familie sehr wichtig. Durch die Anwesenheit des Stiefvaters habe er etwas beweisen wollen und ihm gezeigt, "wie brutal man sein kann". In Gesprächen mit der Gutachterin habe der 20-Jähriger mehrmals gelacht und die Tat als harmlos abgetan. Daher sei eine weitere Prognose ungünstig. Denn durch die alltägliche Situation, die beim Übergriff geherrscht habe, gebe es jederzeit eine weitere Verfügbarkeit von Opfern. Der 20-Jährige leide unter einer emotionalen, instabilen Persönlichkeitsstörung, die einer intensiven Therapie bedarf, meinte Wörgötter.

Zeugin glaubte, Opfer wäre tot

Die Zeugen schilderten ein schreckliches Bild. Ein WEGA-Beamter, der in seiner Privatzeit dem 37-jährigen Prügelopfer zu Hilfe kam, berichtete von zwei bis drei Sprüngen des Angeklagten "im Kopfbereich". Eine 18-jährige Krankenschwesterschülerin, die Erste Hilfe leistete, sagte: "Ich habe im ersten Moment geglaubt, er hat es nicht überlebt."

Neben den Ersthelfern, die am Mittwoch vor Gericht aussagten, hatten sich weitere Zeugen um den Ort des Geschehens zusammengerottet, um den Übergriff auch zu filmen. "Keiner hat was gemacht, meine Freundin und ich haben geschrien: 'Bitte, hört auf!'", erzählte die 18-Jährige. Die 19-Jährige Freundin und der WEGA-Beamte zeigten dem Gericht schaubildlich, wie auf das Opfer eingetreten wurden, indem sie aufstanden und mit beiden Beiden auf den Boden sprangen.

Der Beweisantrag von Verteidiger Reinhard Schäfer, das Videomaterial der Schaulustigen, das der Polizei nie zur Verfügung gestellt wurde, ausfindig zu machen, wurde abgelehnt. Die Geschworenen zogen sich am späten Nachmittag zur Beratung zurück. Mit einem Urteil wird nicht vor 17.00 Uhr gerechnet. (APA, 21.10.2015)