Nur auf den ersten Blick grau: Die wachsende Seestadt in Aspern im Nordosten Wiens beherbergt eine – auch politisch – bunte Mischung.

Foto: Christian Fischer

Bezirksvorsteher Ernst Nevrivy sieht die Gründe für FPÖ-Erfolge zwei Etagen über der Lokalpolitik: "Die Leute kompensieren Zukunftsängste."

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Die Trafik-Angestellte Manuela Cech wundert der FPÖ-Sieg nicht: "Versprochen haben sie eine Grünoase, bekommen haben wir die Sahara."

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Bewohner Arno Umfahrer kann in der Seestadt keine Gründe für den FPÖ-Vormarsch finden: "Das ist Jammern auf hohem Niveau."

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Der Sand, in den die SPÖ die Wahl gesetzt hat, liegt vor der Trafik Barany. "Versprochen haben sie eine Grünoase, bekommen haben wir die Sahara", schimpft Manuela Cech und zeigt auf die grau-beige Fläche zwischen Gehsteig und Straße, wo ein verhungertes Bäumchen dem Herbstwind trotzt. Wie durch einen Windkanal wirble der Sand, hinein ins Geschäft und in die Wohnung darüber. Doch rühren die Verantwortlichen einen Finger? Fehlanzeige! "Da war es Zeit", sagt die Verkäuferin, "diesen Roten einen vor den Latz zu knallen."

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Das haben in Cechs Nachbarschaft viele getan. Seit der Wien-Wahl ist die FPÖ in der Siedlung die Nummer eins, im Sprengel der Trafik mit mehr als 43 Prozent. So weit, so gewöhnlich – wenn es sich denn um ein stinknormales Wohnviertel handeln würde. Doch abgeräumt haben die Blauen in der nagelneuen Seestadt, einem rot-grünen Prestigeprojekt, das das Planungsdesaster der Vergangenheit vergessen machen sollte. Keine gesichtslose Schlafstadt sollte hier aus der grünen Wiese sprießen, sondern eine Smart City, die alle Stückeln spielt.

Sterile Anmutung, bunter Mix

Manches lässt sich bis dato nur erahnen. Der sterilen Anmutung der Retortensiedlung kann sich auch die Seestadt, die Stück für Stück den rissigen Asphalt des ehemaligen Flugfelds von Aspern auffrisst, nicht ganz entziehen. Doch der Stilmix der ersten Wohnblocks hebt sich von der Monotonie alter Plattenbauquartiere ebenso ab wie das bereits recht bunte Angebot entlang der aufgeräumten Straßen: Neben Supermarkt, Apotheke und Drogerie gibt es auch eine Bank, eine Fahrradwerkstatt und einen Bäcker; ein eigener Verein kümmert sich um die richtige Mischung. Obwohl die Seestadt mit gut 6000 Einwohnern noch nicht einmal ein Drittel des für 2028 geplanten Endausbaus ausmacht, fährt die U-Bahn längst in großem Bogen entlang von Feldern und Glashäusern bis fast vor die Haustür.

Dankbarkeit ist keine politische Kategorie

"Es ist schon faszinierend", kann sich Ernst Nevrivy eine Spitze nicht verkneifen: Da schaffe man es dank der U2 in 25 Minuten ins Zentrum – "doch manche Leute beklagen sich, das halt nur jede zweite Garnitur bis in die Seestadt fährt." Wehleidigkeit lässt der Bezirksvorsteher der Donaustadt aber nicht aufkommen, dafür ist der 47-jährige Sozialdemokrat zu sehr Profi. "Dankbarkeit ist keine politische Kategorie", sagt er: "Ich wundere mich ja auch auf Urlaubsflügen, dass bei der Landung geklatscht wird, obwohl der Pilot nur seinen Job macht."

Nevrivy will sich die Seestadt "nicht blaureden lassen", haben doch zwei Drittel eine andere Partei gewählt. Zu denken gibt ihm das Resultat aber schon, zumal die FPÖ hier überhaupt nicht gekämpft habe: "Während die Grünen jede Wohnung besucht haben, wurden die Freiheitlichen nie gesehen." Die Gründe für dieses Phänomen siedelt Nevrivy mindestens zwei Etagen über der Bezirkspolitik an. "Als ich aufwuchs, ging es uns Jahr für Jahr besser", argumentiert er: "Das ist nicht mehr so. Die Leute kompensieren mit ihrem Wahlverhalten Zukunftsängste." Was er da als Lokalpolitiker vor Ort anders machen könne, um den blauen Vormarsch zu stoppen? "Nix."

Jammern auf hohem Niveau

Auch manchem Bewohner fällt auf diese Frage wenig ein. Viele Mütter mit Tragetuch oder Kinderwagen sind an diesem Vormittag unterwegs – eine lobt den vielen Raum für Fußgänger, eine andere die Mixtur aus ländlichem und städtischem Flair, eine dritte schwärmt: "Wir wohnen hier bunt gemischt zusammen."

"Jammern auf hohem Niveau" hält Arno Umfahrer für den Antrieb hinter dem Wahlresultat. Dass diese "Proteststimmen" mit den Zuständen in der Seestadt zu tun haben, will auch der 50-Jährige mit dem Bürstenschnitt nicht glauben. Geradezu chillig, "wie im Club Med", sei die Atmosphäre im ersten Sommer gewesen, als sich am identitätsstiftenden Badesee vor der Tür Handtuch an Handtuch reihte: "Alles ist neu, es gibt keine Platzhirschen."

Ramadan am Balkon

In der Trafik Barany, wo sich Umfahrer eben Zigaretten geholt hat, ist hingegen von einer anderen Realität die Rede. "Der Sommer war eine Katastrophe", sagt die Verkäuferin Cech, nicht nur wegen der Sandplage: Die Motoren der Autobusse hallten durch die Häuserschluchten, am Wochenende drehten lallende Kids nach Gelagen am See ihre Runden. Die Trafikbesitzerin stimmt in die Klagen ein, bis die beiden Frauen – erklärte FPÖ-Wählerinnen am vorletzten Sonntag – beim Reizthema Nummer eins angelangt sind. Nichts gegen Ausländer, sagen sie, aber wer als Gast komme, solle sich auch so benehmen. In der Seestadt, wo 40 Prozent Migrationshintergrund haben, sei das nicht immer der Fall: "Im Ramadan wurde bis Mitternacht auf den Balkonen gefeiert."

Blinde Wetten

Entsprechend polarisiert fiel im neuen Stadtteil, wo 86 Prozent jünger als 45 Jahre sind, das Wahlergebnis aus. Neben der FPÖ schnitten auch Grüne und Neos überdurchschnittlich gut ab. Gemeinsamer Nenner: ein Unbehagen über das altgediente Establishment, verkörpert von der Bundesregierung . "Die ehemaligen Großparteien", sagt der Anrainer Umfahrer, "sind vor 20 Jahren steckengeblieben."

Bezirkschef Nevrivy glaubt dennoch an späten Lohn der Arbeit. Bei der nächsten Wahl in fünf Jahren würden die Vorzüge der Seestadt, die sich dann voll entfaltet haben sollten, zu einem besseren Ergebnis beitragen: "Da trau ich mich fast blind wetten." (Gerald John, 21.10.2015)