Wenn es der bisher wichtigste politische Besuch in ihrer Kanzlerschaft war, wie manche Beobachter im Vorfeld raunten, dann hat Angela Merkel ihn mit kühler Professionalität abgespult. Der türkischen Führung hat die deutsche Kanzlerin dargelegt, wie die Flüchtlingskrise eingedämmt werden könnte und was die Türkei im Gegenzug erhielte: Geld, schnellere Aufhebung des Visazwangs, neuen Anstoß bei den Beitrittsverhandlungen mit der Öffnung eines Kapitels. Nicht mehr, nicht weniger.

Angenommen, man wäre für einen Moment in der Haut Tayyip Erdogans, des autoritär regierenden Präsidenten: Warum sollte er irgendeines dieser Angebote annehmen?

Tayyip Erdogan geht es mittlerweile nur noch um den Machterhalt. Bis 2024 wenigstens will er die Türkei regieren, bis zum Ende eines möglichen zweiten Mandats als Staatschef und gegen alle Hindernisse, die sich in Politik und Gesellschaft aufbauen. Alles andere ist der Machtfrage nachgeordnet: der EU-Beitritt, das Ende der Visapflicht, schon gleich gar ein paar Milliarden Euro Finanzhilfe.

Donald Tusk, der EU-Ratspräsident, hat das nicht begriffen. Wenn die Türkei bei der Flüchtlingsfrage nicht spure, so polterte der oberste Vertreter der Union, dann gebe es eben keine Zugeständnisse der EU. Erdogan braucht sie nicht. Aber nützlich können sie sein, zwei Wochen vor den Wahlen.

Angela Merkel hat ihren Gang nach Istanbul allein angetreten, um Europas derzeit drängendstes Problem zu verhandeln. Es ist symbolisch für die Macht, die Deutschland zugewachsen ist. Aber es gibt noch keine Antwort auf die Frage: Wie kann man die konservativ-islamische Führung in der Türkei zur Kooperation mit Europa bewegen? Erdogans Wertschätzung und die seiner Gefolgsmänner für die Europäer ist gering geworden. Man hält sie für Heuchler, engherzige, merkantile Geister und Islamverachter. Die EU-Staaten, die Ankara noch als Freunde betrachtet, lassen sich an einer Hand abzählen. Deutschland und Österreich sind nicht dabei.

Dennoch sind die nächsten Schritte auf dem Weg aus dem Flüchtlingsdrama ersichtlich: die türkischen Parlamentswahlen abwarten, der türkischen Führung die wirtschaftlichen Folgen einer sich über Jahre hinziehenden Flüchtlingskrise deutlich machen.

Die vorgezogenen Wahlen am 1. November könnten – das sagen zumindest die Umfragen – Erdogans konservativ-religiöser AKP erneut nicht die Mehrheit zur Alleinregierung verschaffen. Anders als bei den Wahlen im Juni wird der Staatschef dann kaum ein weiteres Mal die Bildung einer Koalition verhindern können. Erdogans Einfluss auf die Tagespolitik würde beschränkt; sein Premier, möglicherweise erneut Ahmet Davutoglu, wird alles daransetzen, sich aus der Umklammerung durch den Staatschef zu befreien und die Türkei wieder zur parlamentarischen Demokratie zu machen, wie es die Verfassung vorsieht.

Davutoglu wird mit der EU verhandeln. Die Idee, die Türkei zum "sicheren Drittstaat" zu erklären, könnte Realität werden. Ankara nimmt Flüchtlinge, die über Griechenland und Bulgarien den Weg in die EU suchen, automatisch zurück; das Schleppersystem bricht mangels Erfolgs zusammen. Und die AKP wird auch begreifen müssen: Ohne Lösung der Flüchtlingsfrage wird die türkische Wirtschaft, die Wahlmaschine der Konservativ-Religiösen, nur noch langsamer laufen. (Markus Bernath, 18.10.2015)