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Die deutsche Kanzlerin und der türkische Staatspräsident bei dessen Deutschland-Besuch im Februar 2014.

Foto: APA/EPA/TIM BRAKEMEIER

Istanbul – Wegen der Flüchtlingskrise in Europa reist Deutschlands Bundeskanzlerin Angela Merkel am Sonntag zu politischen Gesprächen in die Türkei. In Istanbul kommt die CDU-Vorsitzende mit Regierungschef Ahmet Davutoglu und mit Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan zusammen. Ein Treffen mit Oppositionsvertretern ist laut von der Bundesregierung veröffentlichtem Besuchsprogramm nicht vorgesehen.

Kritiker werfen Merkel vor, Erdogan und die islamisch-konservative Regierungspartei AKP mit dem Besuch zwei Wochen vor der Parlamentswahl aufzuwerten. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International in Deutschland forderte von der Bundeskanzlerin während ihres Türkei-Aufenthalts klare Worte zur Menschenrechtslage. Zugleich unterstützen aber auch einige deutsche Politiker den Besuch Merkels in Istanbul.

Die Türkei ist das wichtigste Transitland für Flüchtlinge auf dem Weg in die EU. Das Land hat nach Erdogans Angaben 2,5 Millionen Schutzsuchende alleine aus Syrien und dem Irak aufgenommen. Das Flüchtlingshochkommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) registrierte bisher gut zwei Millionen syrische Flüchtlinge in der Türkei. Ankara hat drei Milliarden Euro für die Versorgung der Menschen im Land gefordert – dreimal so viel wie von der EU angeboten. Auch Visafreiheit für türkische Staatsbürger oder die Einstufung der Türkei als sicheres Herkunftsland werden diskutiert.

Vorwurf der Wahlhilfe

Grünen-Chef Cem Özdemir warf Merkel Wahlkampfhilfe für Erdogan vor. "Ich will keine deutsche Bundeskanzlerin, die Wahlkampf macht für einen autoritären Herrscher", sagte Özdemir am Samstag auf einem Parteitag der bayerischen Grünen in Bad Windsheim. "Erdogan ist doch nicht die Lösung der Probleme, sondern Erdogan ist eine personifizierte Fluchtursache durch die Politik, für die er steht." Er erwarte, dass Merkel auch Vertreter der Opposition treffe.

Linke-Fraktionschefin Sahra Wagenknecht sagte "Bild am Sonntag": "Merkels Anbiederung an den Despot Erdogan ist eine moralische Bankrotterklärung. Ausgerechnet mit dem Brandstifter Erdogan einen Pakt zur Abwehr von Flüchtlingen anzustreben, zeigt das wahre Gesicht hinter Merkels Willkommensmaske."

CSU-Landesgruppenchefin Gerda Hasselfeldt sagte den Zeitungen der Funke Mediengruppe: "Wir dürfen der Türkei nicht zu viele Zugeständnisse machen". Sie erklärte: "Es gebe erhebliche Defizite beim Umgang mit den wesentlichen Grundrechten, vor allem bei der Meinungs- und Pressefreiheit.

Die größte türkische Oppositionspartei CHP kritisiert, dass Merkel bei ihrem Besuch auf ein Gespräch mit Vertretern der Opposition verzichtet. Die pro-kurdische Oppositionspartei HDP warf Merkel einen "schmutzigen Handel" mit der Türkei vor. "Es wird gesagt: Schick uns keine Flüchtlinge mehr, mache dem ein Ende und nimm dafür drei Milliarden Euro", sagte der HDP-Vize-Chef Nazmi Gür.

Pragmatismus bei der CDU

Der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) nahm die Kanzlerin hingegen in Schutz. "Würden wir uns an hehre Prinzipien klammern, dürften wir nicht mit der Türkei reden, nicht mit Russland, nicht mit der Mehrheit der Staaten dieser Welt. Das wäre ein falsches Verständnis von politischer Verantwortung", sagte er der "Welt am Sonntag". Man müsse die politische Verantwortung in erster Linie für sein Land wahrnehmen. "Man muss nicht jeden Preis bezahlen, aber man muss mit manchen Leuten reden, wenn es unserem Land nützt", fügte er hinzu.

Merkel selbst verteidigte ihre Reise. "Europa kann seine Außengrenze nicht allein schützen, wenn wir nicht auch ein Abkommen mit der Türkei schließen", sagte Merkel am Samstag. Die Kanzlerin kündigte vor dem Besuch an, auch das Thema Menschenrechte werde eine Rolle spielen.

Trotz der eskalierenden Gewalt zwischen Regierung und der in der Türkei verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zeigte sich Merkel grundsätzlich offen für die Einstufung der Türkei als "sicherer Herkunftsstaat". Der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" (Samstag) sagte sie, die Türkei sei der einzige EU-Beitrittskandidat, der diesen Status nicht habe. "Natürlich bereiten uns die Achtung der Menschenrechte oder die Situation der Kurden weiter Sorgen, dennoch hielte ich es für falsch, der Türkei diesen Status grundsätzlich zu verweigern."

Umstrittene Menschenrechtssituation

Amnesty machte erst kürzlich auf die prekäre Menschenrechtslage in der Türkei aufmerksam: "Noch immer werden Regierungskritiker im Land unter konstruierten Anschuldigungen vor Gericht gestellt und friedliche Demonstranten von der Polizei verprügelt", sagte die Generalsekretärin von Amnesty in Deutschland, Selmin Caliskan, vor wenigen Tagen.

Sie verwies zudem darauf, dass im Konflikt zwischen Sicherheitskräften und der PKK bereits zahlreiche Zivilisten getötet worden seien und kritisierte Überlegungen auf europäischer und deutscher Ebene, die Türkei zum sogenannten sicheren Herkunftsland zu erklären. "Eine solche Einstufung würde die gravierenden Menschenrechtsverletzungen in der Türkei leugnen. Außerdem stiege die Gefahr, dass beispielsweise kritische Journalisten, aber auch Anwälte und friedliche Aktivisten, in die Türkei zurück geschickt würden, obwohl ihnen dort politische Verfolgung droht", so Caliskan.

Merkel reist am Sonntagabend wieder aus der Türkei ab. Es ist ihr erster Besuch in der Türkei seit Februar 2013. Im Sommer 2013 hatte Erdogan – damals als Ministerpräsident – die regierungskritischen Gezi-Proteste niederschlagen lassen. Er ist wegen seines autokratischen Herrschaftsstils im Westen zunehmend isoliert. (APA, 18.10.2015)