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Alma Hasun, Ruth Brauer-Kvam, Alexander Pschill (v. li.).

Foto: Reismann/APA

Wien – Ungefähr im Zehnjahresabstand bricht Der nackte Wahnsinn über alle gut geführten Boulevardbühnen der westlichen Hemisphäre herein. Es gibt kein Entrinnen. Eine Truppe britischer Schausteller hat es sich in den Kopf gesetzt, eine Klamotte mit Titel Der nackte Wahnsinn auf die Bühne zu bringen.

Michael Frayns Farce beginnt damit, dass der Zuschauer einer zum Brüllen komischen Stellprobe beiwohnt. Nichts klappt in den Wiener Kammerspielen. Die Türen klemmen, ein Teller Sardinen wird nicht ordnungsgemäß abgeräumt. Beinahe alle Mimen verpassen ihre Einsätze. Am versammelten Personal nagt mit furchtbarer Gewalt der Zahn der Zeit. Leider ist die Stell- bereits die Generalprobe. Von nun an kann alles nur noch schlimmer werden. Aber Götter üben nicht. Sie erschaffen und überlassen die Schöpfung sich selbst.

Gottes lädierter Fuß

Das ärmste Schwein ist unter diesem Gesichtspunkt der Regisseur (Michael von Au). Arm ist er, weil er wie Gottvater auf ein vollkommen verpfuschtes Werk hinabblickt. Für ein Schwein hat er zu gelten, weil er die brave Regieassistentin beglückt, obwohl er den wandelnden Blondinenwitz der Truppe (Alma Hasun) viel heißer begehrt. Arm ist der (echte) Schauspieler von Au, weil er die Premiere mit gebrochenem Mittelfußknochen spielen musste. Er tat dies vorzüglich.

Als "Regisseur" ist Mister Lloyd Dallas ein enger Verwandter von George Taboris "Mr. Jay" aus den Goldberg-Variationen. Er blickt vom ersten Rang auf eine Bühne, die zu ebener Erde und im ersten Stock wie ein blau verschossener Gobelin aussieht (Ausstattung: Stephan Dietrich).

Wir bitten vor den Vorhang: Miss Dotty Otley (Ulli Maier), die im Stück im Stück eine überforderte Haushaltshilfe geben muss, eine verblühte Majestät. Ihr in nichts nach steht der Erste Liebhaber Garry Lejeune (Alexander Pschill). Er soll die mitgebrachte Blondine vernaschen und obendrein die jeweilige Tür zum richtigen Zeitpunkt auf- und zuschlagen. Ein Ding der Unmöglichkeit.

Die Truppe gebietet weiters über ein Paar in den besten Jahren (Ruth Brauer-Kvam, Oliver Huether), das seinen zweiten Frühling erotisch zu feiern wünscht. Und dann gibt es noch einen gaumigen Alkoholiker (Heribert Sasse), der als bestrumpfter Einbrecher in das Irrenhaus einsteigt. Nicht zu vergessen den traurigsten Inspizienten (Martin Niedermair), den die Welt je gesehen hat.

Für sie alle gibt es kein Entrinnen aus der Schöpfungszentrifuge. In der Probe werden sie zerrüttet. In einer der nächsten Vorstellungen wird uns ein Blick auf die Hinterbühne gegönnt: Das Stück im Stück geht elendiglich vor die Hunde. In einem aussichtslosen letzten Versuch haben die Mächte der Finsternis und der Dummheit den Nackten Wahnsinn endgültig zu Schrot zermahlen.

Regisseur Folke Braband ist hier die oberste Gottesinstanz. Ihm ist ein kleines, feines, bitterböses Schöpfungswerk gelungen. (Ronald Pohl, 16.10.2015)