Die "himmlischen Hundert", eine Gedenkstätte für die Opfer des Protests am Kiewer Maidan gegen die russlandhörige Regierung von Viktor Janukowytsch.

Lubomir Husar, Exkardinal der ukrainischen katholischen Kirche.

Foto: Rauscher

Die junge Frau studiert Politologie an der Ukrainischen Katholischen Universität (UKU) in Lemberg. Sie war beim Protest auf dem zentralen Kiewer Platz (Maidan) dabei: "Wenn es notwendig ist, gehen wir wieder hin."

Die Massenproteste (rund 500.000) dauerten vom Dezember 2013 bis Februar 2014 und endeten im Sturz und der Flucht des russlandhörigen Premiers Viktor Janukowytsch. Der Protest richtete sich gegen den überraschenden Beschluss von Janukowytsch, das Assoziierungsabkommen mit der EU abzusagen (auf Druck von Russlands Präsident Wladimir Putin). Aber auch gegen Korruption, Polizeiwillkür, Restbestände an Sowjetmentalität – und Putins Versuch, die Ukraine zu seinem Vasallenstaat zu machen.

Hier, in einem Hörsaal, sitzt die Generation, die "nach Europa" will und für Putins "Eurasien"-Konzept nur Verachtung übrig hat. "Wir wollen die Gesellschaft Schritt für Schritt ändern. In Richtung Moderne", sagt ein Student.

In Kiew selbst, in unmittelbarer Nähe zum Maidan, ist eine Gedenkstätte für die fast 100 getöteten Demonstranten eingerichtet. Fotos, ein großes Kreuz aus Grablichtern, im Hintergrund eine typische Holzkapelle. Viele Blumen, ein ständiger Fluss von Trauernden. Drei junge Burschen, die dabei waren, erzählen. Die Polizei feuerte in die marschierenden Demonstranten. Unbekannte mit Scharfschützengewehren schossen von den Dächern. Der eine junge Mann, ein Sportstudent, erhielt eine Kugel ins Bein "Wir hatten Angst, aber irgendwann haben wir die Angst verloren". Im Anschluss an das Treffen mit den jungen "Maidan-Veteranen" feiern Priester der ukrainischen griechisch-katholischen Kirche in der kleinen Gedenkkapelle eine Messe.

Szenenwechsel. Ein Militärseelsorger der ukrainischen griechisch-katholischen Kirche berichtet vom Einsatz in den umkämpften Donbass-Gebieten in der Ostukraine. Auf dem Tisch liegen Memorabilien, fast könnte man meinen, Reliquien der Kämpfe: ein geborstener Stahlhelm, Patronengurte, verbrannte Uniformteile. Der Militärseelsorger hat auch eine erbauliche Geschichte zu erzählen: "Wir saßen in unserem Bunker unter schwerem Beschuss von Stalinorgeln. Als wir herauskamen, war ringsum alles zerstört, nur unser großes Kreuz aus Birkenstämmen war unversehrt."

In den zahlreichen Gesprächen in Kiew und Lemberg während einer einwöchigen Informationsreise (organisiert von Kathpress) wird eines sehr deutlich: Es gibt starke Kräfte in der Ukraine, die eine klare Abgrenzung vom russischen Einfluss wünschen. Die diversen "Realpolitiker" im Westen, die Putin zugestehen wollen, die Ukraine in seiner geopolitischen Einflusssphäre zu halten, oder die Verschwörungstheoretiker, die behaupten, der Maidan sei ein Werk des CIA, sollten das diesen Ukrainern lieber nicht ins Gesicht sagen.

Es wird auch klar, dass die ukrainische griechisch-katholische Kirche eine entscheidende Rolle bei der Bildung einer ukrainischen Identität und der nationalen Unabhängigkeit innehat – ähnlich wie im kommunistischen Polen die katholische Kirche.

Die ukrainische griechisch-katholische Kirche machte ursprünglich die Spaltung im Mittelalter in die römische und die orthodoxe Ostkirche mit. Seit 1593 ist sie aber mit der römisch-katholischen uniert, doch unter Beibehaltung des byzantinischen Ritus (auch darf der niedere Klerus heiraten).

Glaube ist wieder interessant

Die Sowjets versuchten nach 1945, die Kirche mit der russisch-orthodoxen gewaltsam zu fusionieren. Ab da war sie eine Kirche im Untergrund unter stalinistischer Verfolgung. Eine Leidensgeschichte, die erst mit der ukrainischen Unabhängigkeit endete. Seither nimmt die Kirche einen deutlichen Aufschwung. Der drückt sich unter anderem im Bau einer modernen Kathedrale in Kiew aus. Der erst 35-jährige Großerzbischof Swjatoslaw Schewtschuk: "Millionen unserer Gläubigen wurden ins Exil getrieben, Millionen kamen in den Gulag. Aber: Der christliche Glaube wird heute für viele wieder interessant, weil wir für eine gerechte Gesellschaft kämpfen und die moralischen Prinzipien inmitten des Systems der Lüge hochhalten. Wir sind ein sehr aktiver Teil der Zivilgesellschaft."

Die religiösen Verhältnisse in der Ukraine sind komplex. Es gibt außer der griechisch-katholischen sozusagen zwei russisch-orthodoxe Kirchen: eine nach dem Moskauer Patriarchat und eine nach dem Kiewer Patriarchat. Man musste der Ukraine ein eigenes Patriarchat, eben das von Kiew, zugestehen. Die Haltung beider zu den Separatisten in der Ostukraine unterscheidet sich deutlich. Der Erzbischof des Kiewer Patriarchats, Hilarion: "Wir nennen das eine russische Aggression, das Moskauer Patriarchat einen Bürgerkrieg. Russland hat immer wieder versucht, ein russisches Imperium zu bauen."

Schwer gelitten haben beide Zweige der Orthodoxie in der Ukraine. Das prachtvolle, blau-golden schimmernde Sankt-Michaels-Kloster (Kiewer Patriarchat) ist eine Replik des ursprünglichen Baus, der unter Stalin gesprengt wurde. Ebenso die Uspenski-Kathedrale des Kiewer Höhlenklosters (Moskauer Patriarchat), das von den Nazis zerstört wurde. Neu aufgebaut wurden sie nach der Unabhängigkeit 1991.

Die Ukraine ist ein Land der Gedenkstätten für eine blutige Geschichte. Zwei Dutzend für die ermordeten Juden, etwa in Babyn Jar (30.000 Menschen von den Nazis erschossen). Ein riesiges sowjetisches Denkmal des Sieges über die Nazis am Ufer des Dnjepr in Kiew. Ebenfalls hoch über dem Fluss das "Holodomor"-Memorial, das an Stalins bewusst herbeigeführte Hungersnot 1932/33 mit drei bis sechs Millionen Toten gemahnt. Gemeinhin gilt diese unvorstellbare Grausamkeit als "Klassenkampf" gegen die wohlhabenderen Bauern, die Kulaken. "Nein", sagt eine Kuratorin der Gedenkstätte, "das war ein Genozid am freiheitswilligen ukrainischen Volk."

Aufbauarbeit ist mehr als notwendig in der Ukraine. Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten sind groß genug, auch ohne den Krieg in der Ostukraine, der jetzt zu einer fragilen Ruhe gekommen ist.

Am schlimmsten sei eigentlich die noch verbliebene Mentalität, einerseits der alte Bürokratismus des Homo sovieticus, andererseits die geradezu endemische Korruption, vor allem bei der Polizei und in der Justiz, sagt ein Vizerektor der katholischen Universität Lemberg. Das verlangt nach dramatischen Maßnahmen: Die Polizei wurde nahezu vollständig ausgetauscht.

Und wie steht es mit der Loyalität der russischstämmigen Bevölkerung? Ein hochrangiger westlicher Beobachter meint: "Die sehen, dass ihnen Putin nur ein quasisowjetisches Modell mit Armut und Rückständigkeit zu bieten hat."

"Dann stürzt Putin"

Der Vizerektor der UKU in Lemberg ist gemäßigt optimistisch: "Diese Generation ist in einer gewissen Freiheit aufgewachsen." Aber im Grunde könne das Putin nicht zulassen: "Wenn die Ukraine ein erfolgreiches Modell wird, dann wird das ein Vorbild auch für Russland."

Drastischer argumentiert der Gouverneur der Region Lemberg, Oleg Synyutka: Russland ziele auf die Destabilisierung der Ukraine ab, um zu zeigen, dass ein Land mit europäischen Werten nicht erfolgreich sein kann. "Wenn das Modell Ukraine gelingt, wird Putin stürzen." Man werde freilich in der Ukraine das Gefühl nicht los, dass die europäischen Politiker "Angst vor Russland haben und die europäischen Werte nicht unterstützen".

Man wird sich in Europa daran gewöhnen müssen, dass die Ukraine sehr auf Eigenständigkeit bedacht ist und nicht "irgendwie doch zu Russland gehört". Der frühere griechisch-katholische Kardinal Lubomir Husar, der die Kirche praktisch wiederaufgebaut hat: "Nach dem Maidan zweifelt niemand mehr an unserer Zukunft. Wie sie aussieht, liegt an uns." (Hans Rauscher, 18.10.2015)