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Der Liberale Justin Trudeau wäre nicht der erste Premierminister in seiner Familie. Vater Pierre leitete Kanadas Regierung 15 Jahre lang.

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Regierungschef Stephen Harper (li.) will ein viertes Mandat.

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"Wir brauchen etwas Neues", sagt der Kanadier Rae Ellingham aus der Provinz British Columbia. "Und alles ist besser als weitere vier Jahre mit Stephen Harper." Der 72-jährige Lehrer im Ruhestand teilt die Auffassung vieler frustrierter Kanadierinnen und Kanadier über den Premier. Seit neun Jahren wird die Regierung Kanadas von der Konservativen Partei gebildet. Aber bei den Parlaments- und Regierungswahlen am Montag, dem 19. Oktober ist ein Machtwechsel gut möglich. In Umfragen hat die Liberale Partei Kanadas seit mehr als einer Woche einen leichten Vorsprung auf die Konservativen. Die Differenz von derzeit 6,8 Prozentpunkten würde für eine liberale Minderheitsregierung reichen.

Der 56-jährige Konservative Harper, der sich um ein viertes Mandat bewirbt, hat die Kanadier polarisiert. Seine Kritiker werfen ihm autokratisches Verhalten, Verachtung des Parlamentes, des Umweltschutzes und des höchsten Gerichtes, aber auch zu viel Nähe zur Ölindustrie vor. Harper hat im 43-jährigen Justin Trudeau, der seit drei Jahren der Vorsitzende der Liberalen Partei ist, einen unerwartet starken Herausforderer gefunden.

Nach der Niederlage die Dynastie

Der jugendlich wirkende Politiker ist der Sohn des legendären Pierre Trudeau, der 15 Jahre lang liberaler Premier Kanadas war und im Jahr 2000 starb. Im Rennen um die 330 Parlamentssitze haben die Liberalen gegen Ende des Wahlkampfs an Popularität gewonnen. Noch vor vier Jahren waren sie die klaren Wahlverlierer mit 34 der damals 308 Parlamentssitze gewesen. Die Konservativen dagegen hatten 166 Sitze mit nur 39,6 Prozent der Stimmen erhalten, denn Kanadas Parlament wird nach dem Mehrheitsprinzip gewählt. Den Ausschlag gibt die Zahl der Wahlkreise.

Die damals zweitstärkste Partei, die sozialdemokratische NDP und offizielle Opposition im Parlament, ist nach einem anfänglich überzeugenden Auftritt in den Umfragen auf Platz drei zurückgefallen. Es scheint, dass immer mehr Linke auf die Liberalen setzen, um endlich Harper loszuwerden.

Lange Regierung trotz geringer Beliebtheit

Der Premier war nie ein besonders beliebter Regierungschef gewesen. Aber dem studierten Ökonomen trauen viele vor allem wirtschaftliche Kompetenz zu, was die Konservativen im Wahlkampf betonten.

Harper erklärte sich auch zum Wächter der inneren Sicherheit und erließ Gesetze gegen die Gefahr des Terrorismus. Justin Trudeau, ein ehemaliger Lehrer, hat sich indes zum Retter des Mittelstandes stilisiert. Er verspricht Milliardeninvestitionen, um die Wirtschaft anzukurbeln und soziale Programme zu finanzieren. Dafür will er auch ein bescheidenes Defizit in Kauf nehmen. Das kritisierte Harper als "leichtsinniges Geldversprechen".

Aggressive TV-Werbespots

Vergangene Woche rückte Harpers Immigrationspolitik mit einer Kontroverse um den muslimischen Gesichtsschleier in den Mittelpunkt der Debatte. Harper will Kanadierinnen verbieten, ihr Gesicht zu verschleiern, während sie den Eid bei der Einbürgerungsfeier ablegen. Mit solchen Schritten hofft er, in der größten Provinz Québec, in der religiöse Symbole in der Öffentlichkeit umstritten sind, Stimmen zu gewinnen. Trudeau wirft Harper vor, die Kanadier gegeneinander auszuspielen". In aggressiven TV-Spots versuchen die Konservativen, die Unerfahrenheit Trudeaus lächerlich zu machen. Aber im Lauf des Wahlkampfes überzeugte Trudeau viele Kanadier mit Intelligenz, Charisma und der entspannten Art, mit der er sich unter den Leuten bewegt.

Richard Johnston, Politikforscher an der Universität UBC in Vancouver, schließt aus heutiger Sicht eine liberale Minderheitsregierung nicht aus, falls die Umfragen zutreffen. Johnston warnt aber auch: "Mit dem Mehrheitswahlrecht muss eine Partei nicht sonderlich beliebt sein, um sich an der Macht zu halten." (Bernadette Calonego aus Vancouver, 14.10.2015)