Die zweite Krone am Gehäuse der "Art Piece 1" hat keinen Zweck. Zumindest aus uhrmacherischer Sicht: Der Zeitmesser aus der Werkstatt der auf Kleinstserien und Einzelstücke spezialisierten Superluxusuhrenmanufaktur Greubel Forsey würde auch ganz gut ohne sie funktionieren. Und doch ist diese zweite Krone essenziell.

Handelt es sich dabei doch um ein Vergrößerungsglas, das den Blick auf das freigibt, was die Uhr in ihrem Namen trägt und was dem Auge sonst verborgen bliebe: ein Kunstwerk – so klein, dass es ohne optische Hilfe kaum sichtbar wäre, denn es ist nicht einmal einen Millimeter groß. Mal handelt es sich um ein Segelboot, mal um eine Maske, mal um einen Hut, der sich dem staunenden Betrachter auf diese Weise offenbart und jedes Stück der Kollektion zu einem begehrten Unikat macht.

Karten aus einem Hut gezaubert. Die Mikroskulptur im Inneren der "Art Piece 1" von Greubel Forsey macht die Uhr zu einem begehrten Einzelstück.
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Geschaffen hat die Mikroskulpturen der Brite Willard Wigan. Er fertigt die kleinsten Skulpturen der Welt: Kate und William passen bei ihm in ein Nadelöhr. Wenn er mit selbstgefertigten Werkzeugen an seinen Skulpturen arbeitet, hält er nicht einfach nur die Luft an: Durch ständiges Training hat er gelernt, seinen Herzschlag zu verlangsamen und zwischen zwei Herzschlägen einen Arbeitsschritt auszuführen.

1,5 Millionen Euro aufwärts

Elton John und Prinz Charles gehören zu den Fans dieses Ausnahmekunsthandwerkers, und eben auch Stephen Forsey und Robert Greubel, die Gründer der gleichnamigen Uhrenmanufaktur, die sich ganz dem (uhrmacherischen) Handwerk auf Spitzenniveau verschrieben haben. Ob sich das auszahlt? Es ist anzunehmen, kosten solche kunstvollen Einzelstücke doch locker 1,5 Millionen Euro aufwärts.

Altes Kunsthandwerk feiert auf Zifferblättern fröhliche Urständ.
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"Die Hand ist wieder groß im Geschäft", stellt daher auch der Londoner Schriftsteller, Kritiker und Kurator Justin McGuirk in einem Essay über die Rückkehr des Handwerks fest. Er führt dies auf ein Verlangen nach Authentizität zurück, nach Geschichten, die hinter den Gegenständen stecken. Zu einem Gutteil sei diese Stimmung auch auf Nostalgie zurückzuführen, eine Möglichkeit, eine Welt auszubalancieren, die zwischen Automatisierung und Algorithmen schwankt.

Piaget arbeitet mit Halbedelsteinen für realistische Rosendarstellungen.
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Das erklärt in weiten Teilen, warum die mechanische Uhr erneut ein Objekt der Begierde geworden ist, ist sie doch ihrerseits "in hohem Maß ein Verweis auf die Vergangenheit", wie es Uhrenexpertin Maria-Bettina Eich ausdrückt. Das Bild einer versunkenen Welt des hingebungsvollen Handwerkertums verkörpert nicht nur eine "Tendenz zum sentimentalen Eskapismus", meint der englische Kunsthandwerkstheoretiker Glenn Adamson, den Eich zitiert. Eich meint: "Es verbürgt auch die Rarität des Luxusobjekts Uhr: Ein Produkt, das auf Handarbeit durch Spezialisten angewiesen ist, lässt sich nicht in unbegrenzten Massen produzieren."

Girard-Perregaux setzt auf Farbsteinintarsien.
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Und alles, das sich nicht ad infinitum herstellen lässt, ist umso interessanter für eine auf Verknappung spezialisierte Branche, wie es die Luxusuhrenindustrie ist – so könnte man diesen Gedanken weiterspinnen: Rare Uhren und seltenes Handwerk, das ist eine exklusive Mischung, die Teures noch teurer machen kann.

Ein positiver Nebeneffekt

Dieses Streben nach möglichst exklusiven Stücken hat letztlich einen positiven Nebeneffekt: Fast vergessene Techniken werden wieder aus ihren Nischen geholt. Auch wenn die "Art Piece 1" ein extremes Beispiel sein mag: Fest steht, dass dank der Uhrenbranche (aber nicht nur dort) handwerkliche Fähigkeiten, die schon von vorgestern erschienen und in Vergessenheit zu geraten drohten, eine Wiedergeburt erleben. Die Branche betreibt sozusagen "technologischen Artenschutz", indem sie klassische Handwerkskünste vor dem Aussterben bewahrt.

Chanel hält die Kunst der Schmuckstickerei en miniature hoch.
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Bei Breguet wird zum Beispiel die Guillochiertechnik, das Gravieren von Edelmetall mit einer speziellen Stichelmaschine, einem veritablen Eisenklotz, der vor rund 300 Jahren entwickelt wurde, gepflegt. Dabei entstehen feine, kalei doskopähnliche Muster auf dem Zifferblatt.

Skelettierte Uhrwerke

Auch das Skelettieren per Hand, das kunstvolle Freilegen des kostbaren Innenlebens der Uhr, ist wieder schwer angesagt, wie der Besuch der einschlägigen Messen in diesem Jahr bewiesen hat – auf die Spitze getrieben von Roger Dubuis, wo selbst die Uhrwerke skelettiert werden.

Hublot besinnt sich auf St. Galler Spitze.
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Bei Patek Philippe wird wie seit den Anfangstagen vor 176 Jahren emailliert. Dabei handelt es sich um ein Material, dass schon in der Antike verwendet wurde. Es ist, dem Kristall nicht unähnlich, eine Mischung aus Siliziumdioxid, alkalischen Bestandteilen und Blei. Es wird bei sehr hoher Temperatur geschmolzen und anschließend zu einem farblosen Pulver zermahlen. Durch kontrolliertes Brennen und die Zugabe von Oxiden erreicht man eine große Farbenvielfalt. Allein beim Emaillieren gibt es zahlreiche Unterarten, die wiederum ganz besondere Fertigkeiten voraussetzen.

Bei Cartier wird mit Blütenblättern ein farbenfroher Papagei auf die Uhr gezaubert.
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Geduld, Präzision und Fingerspitzengefühl muss auch ein Plumassier mitbringen, um zarte Schmuckfedern zu Zifferblättern werden zu lassen. Nur die schönsten Federn werden von den Handwerkern nach Stabilität, Dichte und Feinheit ausgewählt, unter Dampf fixiert und von Hand zugeschnitten. Was dann kommt, ähnelt der Intarsienarbeit: Die Federn werden unter der Lupe ausgebreitet, zum gewünschten Motiv arrangiert und verklebt.

Wieder andere arbeiten mit gefärbtem Stroh und fertigen daraus filigrane Muster. Selbst Blütenblätter kommen zum Einsatz, um Zifferblätter mit farbenfroh figuralen Motiven zu dekorieren. Ganz zu schweigen von Stickereien für florale Darstellungen oder aus Halbedelsteinen geschnittenen Blüten mit 3-D-Anmutung – das alles auf der limitierten Fläche eines Zifferblatts. Solche Arbeiten nehmen oft mehrere Tage, wenn nicht gar Monate in Anspruch.

Bauernhaus der Spezialisten

Menschen, die mit viel Lust und Liebe und vor allem mit ruhiger Hand Zifferblätter in Kunstwerke verwandeln, sind selten und dementsprechend gefragt. Das geht so weit, dass manche Marken die Namen bestimmter Mitarbeiter nicht preisgeben, weil sie Angst davor haben, dass diese abgeworben werden. Schon werden Klagen über Fachkräftemangel laut.

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Um dem entgegenzuwirken, hat zum Beispiel Cartier im vergangenen Herbst mitten im Chaux-de-Fonds-Tal in der Schweiz die Maison des Métiers d’Art eröffnet. Ziel dieser bisher einmaligen Einrichtung ist es, das Wissen um altes Kunsthandwerk am Leben zu erhalten. 47 Mitarbeiter teilen sich das alte, vierstöckige Bauernhaus, darunter 28 Handwerker, die sich ausschließlich dem Kunsthandwerk verschrieben haben.

Zunehmende Wertschätzung

Intensiver Austausch steht im Mittelpunkt. Das beinhaltet auch Forschungs- und Recherchearbeit, wenn es etwa darum geht, sich einen bestimmten Handgriff anzueignen, ein spezielles Werkzeug herzustellen oder eine schon vor Jahrtausenden ausgeübte, aber verloren gegangene Technik wiederzuerlernen.

Bei Hermès arbeitet man mit gefärbtem Stroh für reliefartige Muster
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"Dies alles bedeutet, dass der Herstellungsprozess selbst wieder zunehmend wertgeschätzt wird", fasst Justin McGuirk zusammen und behauptet: "Die Anfertigung des Produkts ist fast interessanter geworden als das Produkt an sich." Das kann man so stehen lassen. (Markus Böhm, Rondo Exklusiv, 16.10.2015)