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Stoßrichtung für den Verbleib in der EU: Das proeuropäische Lager in Großbritannien geht in die Offensive.

Foto: Reuters/Melville

Eigentlich bleiben noch zwei Jahre Zeit. Doch beide Seiten rechnen mit der Volksabstimmung über Großbritanniens Verbleib in der EU deutlich vor dem spätestmöglichen Termin Ende 2017. Und so hat, kaum sind die Parteitage vorbei, der Schlagabtausch begonnen. Nachdem zuletzt jene die Schlagzeilen bestimmten, die für einen Austritt sind, geht an diesem Montag das Lager in die Offensive, das für den Verbleib ist. Das Land sei "stärker, sicherer und reicher" als Mitglied des Brüsseler Clubs, glaubt der Chairman der Lobbygruppe "Britain stronger in Europe", Lord Stuart Rose.

Als wahrscheinlichste Termine für die Abstimmung werden in London derzeit Juni oder Oktober 2016 gehandelt. In den Umfragen liegen die beiden Lager etwa gleichauf. Mindestens 20 Prozent sind unentschieden. Während im Frühjahr die EU-Befürworter klar vorn lagen, brachten die Flüchtlingskrise und die Angst vor zunehmender Einwanderung den Gegnern Zugewinne. Dabei ergeben sich große regionale und altersbedingte Unterschiede. Während Waliser und Schotten sich solide für den Verbleib aussprechen, gibt es in England mehr Skeptiker. Dem Institut Yougov zufolge wollen Junge unter 25 mit beinahe Zweidrittelmehrheit (64 Prozent) in der EU bleiben. Bei den über 60-Jährigen liegen die EU-Gegner mit 52 Prozent vorn.

Umstrittenes Wahlrecht

Indirekt könnte auch eine Wahlrechtsreform die Sache der Proeuropäer behindern. Neuerdings verlangt die Regierung nämlich eine jährliche Registrierung der Wähler; das wirkt sich negativ auf junge Leute mit oft wechselnden Adressen aus. Sie konnten bisher von Eltern oder Universitäten gemeldet werden. Das ist nun verboten. "Wenn wir nicht mehr tun, könnte eine ganze Generation als Wähler verlorengehen", sagt Exinnenminister Alan Johnson, der die EU-Kampagne der Labour-Partei leitet.

Die Sozialdemokraten haben ihren neuen, zutiefst europaskeptischen Vorsitzenden Jeremy Corbyn auf einen Pro-Europa-Kurs festgelegt, indem die führenden Außenpolitiker geschlossen mit Rücktritt drohten.

In der Unterhausfraktion gibt es nur wenige EU-Feinde wie die frühere Sportstaatssekretärin Kate Hoey. Der Brüsseler Club sei nicht nur "mit riesigen Kosten verbunden", glaubt die Londoner Abgeordnete, sondern sei auch zu wenig an Arbeitnehmerrechten interessiert. Letzteres Argument fällt zunehmend auf fruchtbaren Boden bei linken Gewerkschaften wie Unite und Unison.

Labour-Schlachtrösser

Hingegen wird der frühere Leiter des Gewerkschaftsdachverbands TUC, Brendan Barber, am Montag die neue Lobbygruppe zugunsten der EU aus der Taufe heben. Die Überparteilichkeit der Kampagne symbolisieren auch der Getränkeunternehmer Richard Reed (Innocent), Megan Dunn vom Studentenverband NUS und alte Labour-Schlachtrösser wie der frühere Wirtschaftsminister und EU-Kommissar Peter Mandelson und der frühere Wissenschaftsstaatssekretär David Sainsbury, Erbe des gleichnamigen bekannten Einzelhandelskonzerns.

Den konservativen Geschäftsmann Rose (66) für die EU-Sache gewonnen zu haben verbucht man im Pro-Lager als Coup. Rose genießt einen legendären Ruf als smarter Geschäftsmann; vor zehn Jahren rettete er die Kette Marks&Spencer, seit Jahrzehnten Benchmark solider englischer Bekleidung, vor dem Untergang. Vor allem aber kannte man Rose als Skeptiker des politischen Europa. Sein Engagement deutet darauf hin, dass die Debatte schärfer als bisher den Unterschied zwischen gesunder Skepsis gegenüber der EU und ihrer völligen Ablehnung thematisieren wird.

Ausdrücklich beteuern die EU-Freunde ihr nachhaltiges Interesse an Reformen, wie sie Premierminister Cameron stets fordert. Zudem operieren sie ausdrücklich mit patriotischen Parolen. Er habe zuallererst britische Interessen im Kopf, betont Rose und echot damit Camerons Parteitagsrede.

Es wäre jedoch "ein merkwürdiger Patriotismus, der uns den Rückzug von unserem Einfluss in Europa und in der Welt nahelegt", so Rose. "Wir wahren Großbritanniens Interesse durch Führerschaft, nicht durch Rückzug." (Sebastian Borger aus London, 11.10.2015)