Die Flüchtlingsthematik habe alles überlagert, werden die Wahlverlierer auch in Wien zu ihrer Rechtfertigung vorbringen. Monokausalität war immer schon der bequemste Teil der politischen Rhetorik. Der dazugehörige verhöhnende Subtext lautet: "Alles Übrige war ohnehin weitestgehend in Ordnung."

Diffuse Ängste zu schüren ist zwar ein probates, jedoch moralisch unlauteres Mittel, Politik zu betreiben. Faschismus und Nationalsozialismus machten sichtbar, wie Massen gewonnen wurden, indem die Politik auf demagogische Weise deren Nöte und Wünsche thematisierte. Dass die Regierungsparteien trotz dieses historischen Wissens nicht massiver gegensteuerten, als sogar auf der ehemaligen Insel der Seligen vielschichtige Ängste geschürt wurden, kommt einer politischen Unterlassungshandlung gleich.

Die beiden ehemaligen Großparteien haben nicht nur den Kontakt zur Basis verloren, sondern auch die Themenführerschaft aufgegeben. Nichts scheint mehr für deren Weckruf auszureichen. Aktivität bei gleichzeitiger struktureller Erstarrung in der Sozialdemokratie Wiens und nahezu flächendeckende Resignation mit partiellen Lähmungserscheinungen bei der Volkspartei. "Wer will noch regieren? Wer noch gehorchen? Beides ist zu beschwerlich", schrieb Friedrich Nietzsche in seinem Zarathustra.

Die präzise Unterscheidung von Angst, Sorge und Besorgtheit hätte den gemäßigten Kräften dazu dienen können, effizient gegenzusteuern. Menschen diffuse Angstbilder zu nehmen ist politisch kaum lösbar. Glaubhaft das Gefühl zu vermitteln, man kümmere sich um Besorgnisse und Befürchtungen, ist machbar. Man muss das Terrain nicht gleich aufgeben, nur weil man den politischen Diskurs nicht differenziert genug wahrnimmt. "Augen zu und durch" ist keine politische Methode, sondern nur die Zustandsbeschreibung eines kläglichen, reaktiven Eigenverhaltens.

Aus dem Irrtum gelangen

Auch deshalb ergreift die Enttäuschung allmählich die Bevölkerungsmehrheit. Doch Enttäuschung war in der Vergangenheit positiv konnotiert: Als das geis-tige Aufstehen der Aufklärung ganz Europa durchströmte, bezeichnete das Enttäuschen ein aus der Täuschung Herauskommen, ein Herausziehen bzw. Herausgelangen aus einem Irrtum. Erst später gelangte die Komponente des Hoffnung-Verlierens in den Begriff.

Auch die Mehrheit der heute Flüchtenden wird enttäuscht werden. Denn selbst wenn sie in Europa bleiben darf, wird sie kaum den Weg des sozialen Aufstieges finden, wie "Parallelgesellschaften" in Berlin oder Paris dies bereits zeigen. Soziale Exklusion ist der Nährboden, auf dem rechtspopulistische Parteien existenzielle Ängste säen. Wenn diese Saat aufgeht, kann sie ethnisiert werden. Das verstärkt die zentrifugalen Tendenzen einer bereits brüchigen europäischen Idee weiter. Und auch auf europäischer Ebene schreitet die Unterlassung von Vorbereitung voran, wenn etwa die begrüßenswerte Dynamik der Willkommenskultur den schleichenden "Kulturimport" von Antisemitismus kaum beachtet. Die geistige Mesalliance aus "Migrationsantisemitismus" mit jenem der Rechtsradikalen und der bereits bestehenden radikalislamischen Kräfte wäre als gegenseitige negative Befruchtung nur schwer beherrschbar. Der neue Antisemitismus europäischer Prägung könnte wie ein Virus mutieren und viel schwieriger zu bekämpfen sein als der alte dumpfe Rassismus. Und das nach weniger als einem Jahrhundert nach 1945, mitten in einem Europa, das bisher nicht einmal den latenten Antisemitismus substanziell eindämmen konnte.

Xenophobie ist längst in der Mitte der sich immer ohnmächtiger fühlenden, immer weniger an politische Partizipation glaubenden Gesellschaft angekommen. Mit ihrer Wahlkampfstrategie grei- fen Rechtspopulisten gleichzeitig nach den sozial benachteiligten Bevölkerungsteilen und nach der wirtschaftlich geschwächten bürgerlichen Mitte, der sie erklären, als einzige politische Kraft ernsthaft zuzuhören. Die Metaphorik der Naturkatastrophen, wie Flüchtlingswellen oder Flut eindringender Flüchtlinge, vervollständigt die Feindbildrhetorik. Mithilfe sozialer Medien droht dieses xenophobe Heimatschutz-Bild die Diskurshoheit zu erlangen. Auch das Wort "Demut" – aus populistischem Mund eine Leerformel – klingt weder dankbar noch ergeben, sondern obszön. Das Wort "Demut" ist ein Teil jenes Verbalradikalismus des sanften Wortes, wie eine "Lüge in potentia", eine im Voraus selbst erteilte Erlaubnis, nicht wahrhaftig sein zu müssen.

Realismus ist unumgänglich: Bleiben viele der Schutzsuchenden, wird die Stimmung auch hierzulande kippen. Gemessen an der dann eintretenden Realität werden viele gute Vorsätze der Willkommenskultur durchlässig werden. Und irgendwann geht der Zivilgesellschaft die Kraft aus. Die europäische Idee könnte erodieren, in alte Nationalbegriffe kippen. Und niemand wird schuld sein. Auch die Wiener Migranten der ersten und zweiten Generation sollten sich daher nicht dazu verleiten lassen – im Bezug auf die neuen Schutzsuchenden -, fremdenfeindlich zu wählen. Wien könnte sich besinnen und "mehr Demokratie wagen", wie Willy Brandt das 1969 formulierte. (Paul Sailer-Wlasits, 09.10.2015)