Wien – Zwischen Stephansdom und Bräunerstraße liegen 100 Meter und zwei Welten. Wer die Tür zum k. u. k. Schumacher Scheer öffnet, betritt zuerst einmal museal anmutende Räume, die gleichzeitig lebendige Verkaufsräume sind. Ein ruhiges, ein beruhigendes Ambiente. Antike Möbel ohne Plüsch und Kitsch.

Die Ornamente an der Wand im Entree des Gebäudes sind mit großer Fertigkeit originalgetreu restauriert. Dort, wo nur kahle Flecken an den Wänden waren, sind diese auch heute noch. Nichts wurde übertüncht, man fühlt die Vergangenheit, man riecht die Gegenwart – und das Leder.

Foto: Peter Rigaud


An der Decke zwischen den Gewölben sind Eisentraversen angebracht. Sie sehen aus wie Teile des Pariser Eiffelturms und stammen tatsächlich aus der Zeit seiner Erbauung. Ein Davidstern erinnert an den früheren Mieter, einen jüdischen Schneidermeister. Seit etwa 1870 ist das Haus der Sitz der Familie Scheer.

1816 gründet Johann Scheer, Spross einer Weinbauernfamilie, eine Werkstätte für "feine Schuhe". Eine der Hochblüten erlebt das Haus unter seinem Enkel Rudolf: Von der Weltausstellung 1873 bringt dieser eine goldene Medaille mit nach Hause, fünf Jahre später darf er sich mit dem Titel "kaiserlicher und königlicher Hofschuhmacher" schmücken. Zu seinem Kundenkreis gehören neben den Habsburgern auch der deutsche Kaiser Wilhelm, griechische und serbische Könige.

Foto: Peter Rigaud


Rudolf Scheer genießt höchste Anerkennung. Er ist einer der wenigen, die am Hof, beim Abschied von Kaiser Franz Joseph diesem den Rücken zukehren durften. Bis heute umgibt die Familie ein Stolz, die Verleihung des Adelstitels wird sie allerdings immer ausschlagen und ihre bürgerlichen Wurzeln bis heute nicht vergessen.

Der Betrieb gehört zu den weltweit ältesten seiner Branche in Familienhand. Die knarzende Holztreppe in den ersten Stock führt an den Porträts von sechs Generationen vorbei. Nummer sieben nimmt heute Maß und fertigt die Leisten. Das braucht nicht nur Zeit, es braucht Erfahrung, Passion und eine Beziehung zum Kunden. Markus Scheer hat sein Metier von der Pike auf gelernt. Der Großvater als Lehrer. "Der Leisten ist die Seele des Schuhs", so das Familienoberhaupt. Das Wort "Chef" wird man nie hören.

Maßarbeit und Handarbeit

Dreimal muss der Kunde zur Anprobe. Jeweils zwei der insgesamt zwölf Schuhmacher arbeiten bis zur Fertigstellung an "ihrem" Schuh und begleiten ihren Kunden – auch über Jahre. Ein Paar Schuhe braucht rund 50 Arbeitsstunden oder an die sieben Monate – fast so lange wie eine Schwangerschaft. Insgesamt 300 Paar sind das im Jahr. "Höchstens", wie Scheer betont.

Foto: Peter Rigaud


Leder ist wie eine Haut, Leder lebt. Anders als beim handelsüblichen geklebten Schuh, den der Fuß meist erst "eintreten" muss, wird das Leder hier in nassem Zustand strengstmöglich über den Leisten gezogen, bis es trocknet und später nicht mehr nachgibt. Danach wird genäht, geklopft, gehämmert, wieder genäht. Mit der Hand und mit alten mechanischen Singer-Nähmaschinen, die noch mit Tretpedalen zu bedienen sind.

Es wird probiert, optimiert, individualisiert. In der ehemaligen Schlafkammer des Großvaters lagern heute 10.000 Lederrollen, von gängigen Materialien bis hin zu 200 Jahre alten Raritäten. Eines der Zimmer, die ebenfalls einmal zur Privatwohnung der Scheers gehörten, bildet die Werkstatt. Bis auf die Handwerksgeräusche ist es vollkommen ruhig.

Foto: Peter Rigaud


Gearbeitet wird mit höchster Konzentration, inmitten alter Familienmöbel, antik – das Gegenteil von verstaubt. Mitten in der Wiener Innenstadt. In einem Ambiente von Thonetstühlen, jahrhundertealten Kommoden und Kerzenleuchtern entsteht nicht nur Handwerk in seiner vollendeten Form. Gesundheitliche Aspekte stehen ganz oben auf der Agenda. Alles sei möglich beim Schuh, jedes Leder, jede Farbe, jeder Stil. "Skulpturelle Schönheit nach außen ist nach wie vor die höchste Kunst, die wir anbieten können, nach innen ist es die maßgefertigte Orthopädie."

Pionier der Orthopädie

Großvater Carl Ferdinand war ein Pionier in Bezug auf die gesundheitlichen Aspekte des Schuhs. Gerade bei Kriegsversehrten war die Nachfrage gegeben. Scheer heute: "Man kann nach außen ein schönes Kleid bauen und nach innen das Gefühl vermitteln, auf einer Wiese in den Wolken zu gehen." Der Fuß gibt immer ein Feedback.

Turbulente Zeiten? Natürlich gab es auch sie, aber wirtschaftlich ist das Unternehmen stets gut aufgestellt, nie in Gefahr. "Wir haben drei Wirtschaftskrisen, zwei Weltkriege überstanden", so Scheer. "Es wird immer einen Markt geben, der Qualität versteht." Heute kommen die Kunden von überallher. Wohlgemerkt: Die Kunden sind es, die anreisen. Neben dem deutschsprachigen Raum kommen sie aus Dubai, Japan oder den USA. Weltruhm spricht sich halt herum.

Foto: Peter Rigaud

Je länger man den Kunden kenne, desto perfekter sei der Schuh. Der Fuß als wichtiger und sorgsam behandelter Körperteil entwickle mit der Zeit ein gewisses gesundes Suchtpotenzial, so Scheer. Der Stammkunde bringe einen zu Höchstleistungen.

Fast vergessene Meister

Der Betrieb ist Familie, der Kunde ist Familie. Neben Gürtel und Kleinware bietet Scheer seit zwei Jahren auch Taschen und Koffer an, in einer Güte, die schon fast ausgestorben schien. "Warum nicht altes Wissen für die Gegenwart retten?", so Scheer. Ein Jahrzehnt wurde an der Technik getüftelt, wie aus einem einzigen Stück Leder ein Koffer gefertigt werden kann. Und man kann, wie der Mitarbeiter, Meister seines Fachs seit vier Generationen, heute beweist.

Foto: Peter Rigaud

Nächstes Jahr feiert der Betrieb sein 200-jähriges Bestehen. Leise werde man feiern und da in erster Linie die Handwerker. Und eine Menge Ideen stehen im Raum. Scheer schmunzelt. Viel will er noch nicht verraten – nur ein Detail: Wie hätte wohl der Schuh Kaiser Franz Josephs in dessen geheimsten Wünschen ausgesehen? Ein Schuh, den zu tragen, in der damaligen Zeit unmöglich gewesen wäre, so Scheer. Den wolle er kreieren.

Zum Jubiläum wird der renovierte Kohlenkeller zum Museum hergerichtet. Gleich im Nebenraum befindet sich das Archiv. Darin lagern 4500 Leisten. Der von Franz Joseph liegt in einem eigenen Schauraum im Erdgeschoß.

Manche Unternehmen sitzen auf Börsenmilliarden. Scheer ist seine Schuhe wert. (Sigrid Schamall, 13.10.2015)