Ethnische Albaner im serbischen Presevo.

Foto: EPA / ARMANDO BABANI

Jüngst sagte ein griechischer Diplomat in einem EU-Gremium – nachdem die Österreicher gefordert hatten, dass die Namensfrage für Mazedonien ein EU-Thema werden sollte –, dass "die Österreicher nun wirklich nicht mehr auf dem Balkan regieren" würden. Ein Forschungsprojekt nimmt die Zeit, als sie dies noch taten, unter die Lupe. Es geht um österreichische Politik in der Spätphase des Osmanischen Reichs. Durchforstet wurden dafür die diplomatischen Berichte von Konsuln aus dem osmanischen Vilayet (Verwaltungsbezirk) Kosovo zwischen 1870 und 1914.

Mit dem vom Wissenschaftsfonds (FWF) geförderten Unterfangen wurden einschlägige Berichte aus den Konsulaten Mitrovica, Prizren und Skopje, die sich im Haus-, Hof- und Staatsarchivs befinden, analysiert. Projektleiter war und ist der Schweizer Historiker Oliver Jens Schmitt, der damit auch die These untermauern will, dass die Geschichte Kosovos nicht auf eine serbisch-albanische Konfliktgeschichte reduziert werden kann. Schmitt, der an der Universität Wien die Geschichte Südosteuropas unterrichtet, denkt, dass die tieferen Ursprünge des heutigen Konflikts im Zeitraum zwischen 1870 und 1914 liegen, als regionale Nationalstaatsgründungen und Nationalisierungsprozesse auch auf den Kosovo einwirkten und tiefgreifende Veränderungen herbeiführten. Und Österreich-Ungarn spielte dabei eine durchaus wichtige Rolle.

Zentrales außenpolitisches Projekt

"Die österreichischen Konsuln wussten teils mehr als die osmanischen Behörden", so Schmitt. Die Diplomaten hatten in Wien die Orientalische Akademie besucht und stützten sich im Osmanischen Reich auf ein dichtes Netz an Informanten, darunter Pfarrer und Kaufleute. "Die Monarchie hat Kenner der Region auf den Balkan geschickt. Das war ein zentrales außenpolitisches Projekt."

Ab dem 18. Jahrhundert bestand zudem ein Kultusprotektorat der Monarchie für die Katholiken vor Ort. "Die Monarchie glaubte, sich auf den katholischen Klerus verlassen zu können. Dieser aber nahm auch Subsidien von Österreichs Konkurrenten Italien und Frankreich an", erzählt Schmitt. Die Anreize, die aus Wien geboten wurden, waren nicht viel anders als heutzutage: Es gab Stipendien und Reisemöglichkeiten, aber auch direkte Zahlungen an Vertrauensmänner.

Einer der Konsuln war Alfred Ritter Rappaport von Arbengau, der unter anderem in Prizren und in Skopje gewirkt hatte. Er schreibt 1899 über die Vertreter des katholischen Klerus in Albanien, "welche die natürlichen Vermittlungsorgane für die Intentionen der hohen k. und k. Regierung bilden sollten", dass diese "sich leider schon vor Jahren in eine inacceptable, illegale Haltung gegenüber unserem vertragsmässigen Schutzrechte verrannt hatten und an dieser ohne sonstige decidirte politische Tendenz starr festhaltend, jede Unterstützung gegen uns [...] "mit der dem Albanesen eigenthümlichen Charakterlosigkeit wahl- und rückhaltlos acceptieren".

Serbien schwächen

Dem k. und k. Außenministerium ging es damals darum, eine albanische Nationsbildung voranzutreiben – unter anderem, weil es Serbien schwächen wollte. Rappaport schlug vor, "in der Richtung auf das Hauptziel der nationalen Propaganda vorzumarschiren" und bot sich an, "dass der gegenwärtige, günstige Moment dazu benützt werde, um durch Emissäre, Flugschriften u. dgl. die Eroberung des Vilayetes Kossova für die Nationalidee zu versuchen". Ein zur Monarchie loyaler Priester solle zudem an die Spitze der Erzdiözese in Shkodra gestellt werden, damit die "hiesigen Katholiken ihren natürlichen Platz in unserem politischen Systeme wieder einnehmen werden!", so Rappaport.

Der Konsul hatte noch auf einer zweiten Front Probleme, die österreichischen außenpolitischen Ziele zu erreichen. Denn nicht nur die Katholiken spielten nicht mit, auch die Muslime hatten kein Interesse an einem albanischen Staat. Rappaport berichtet "den 19. Oktober 1899" vertraulich aus Prizren, dass die österreichischen Ambitionen, eine albanische Nationalidentität gegen "serbischen Expansionismus" zu fördern, nicht funktionieren.

Schuld sei, so Rappaport, dass die "mohammedanischen Albanesen des Vilayets Kossova" wegen ihres "religiösen Fanatismus, ihrer theilweisen Vermischung mit türkischen und slavischen Elementen, des vorherrschenden Gebrauches der osmanischen Sprache in einzelnen Städten, ihrer regen Beziehungen zum Palais etc. sich bisher als ein wenig fruchtbarer Boden für die in den albanesischen Landschaften an der Adria zutagetretenden national-literarischen Bestrebungen erwiesen". Bei den Albanern im Kosovo spielte das nationale Element damals nur eine geringe Rolle, erklärt Schmitt. "Denn es gab keine überkonfessionelle, das heißt muslimische wie katholische Albaner umfassende Identität."

Religiöser, aber nicht nationaler Zusammenhalt

Sie seien Lokalpatrioten, schreibt Rappaport über die Kosovo-Albaner, wenn sie auch bereit seien, zu den Waffen zu greifen, dann eher aus religiösen Gründen, aber nicht nationalen. Als "Beweis" dafür führt Rappaport an, dass sie bereit seien, die "slavischen Muselmänner (…) auch als 'Arnauten' (...) mit Gut und Blut zu vertheidigen". Bis heute gibt es übrigens diese Verbindungen zwischen den Albanern im Kosovo und Bosniaken (wie sie sich heute nennen) im Sandschak. Der Sandschak gehörte damals auch zu der türkischen Verwaltungseinheit Vilayet Kosovo.

Das Vilayet Kosovo umfasste auch den Nordwesten von Mazedonien mit Tetovo, Kumanovo und Skopje. Im Vilayet Kosovo gab es – im Gegensatz zu Südalbanien – jedoch keine starke Nationalbewegung unter den Albanern. Schmitt meint, dass einer der Gründe dafür war, dass die Muslime ohnehin bevorzugt und deshalb auch dem Sultan treu waren. Sie hatten zahlreiche Privilegien und wurden von den Osmanen gezielt als "Ordnungsfaktor" eingesetzt, etwa zum Schutz der Grenzen des Osmanischen Reiches. "Das Gewaltgefälle war eindeutig, die Muslime waren bewaffnet und die Christen nicht", so Schmitt. Wenn ein Muslim Gewalt verübte, "intervenierten die aus Muslimen bestehenden Behörden in der Regel nicht".

"Albanesischer Nationalsport"

Österreichische Diplomaten sprachen auch von einem "Rassenhass gegen die Slawen" in den ostalbanischen Gebieten. Das Gewaltgefälle zwischen Muslimen und Christen beschrieben die Diplomaten als groß. Im osmanischen Kosovo wurde von Behörden wie Teilen der muslimischen Bevölkerung gegen die christliche Bevölkerung strukturelle und offene Gewalt ausgeübt.

Der Konsul in Mitrovica, Ladislaus Tahy von Tahar, berichtet: "Das erneuerte Verbot des Waffentragens (…) verfehlte die Wirkung im Amtsbezirk völlig. Nicht eine Waffe wurde abgeliefert oder confisziert", so Tahy. "Der beliebte albanesische Nationalsport der Plünderung und Mißhandlung der serbischen Bevölkerung floriert nach wie vor." Die serbische Bevölkerung habe nach wie vor "unter der Bedrückung der Albanesen zu leiden, die Regierung ist unfähig, sie in gehörigem Maße zu schützen." Die serbische Bevölkerung bemühe sich eine "regierungstreue Haltung" zu zeigen, um "auf dem Gebiete der Kirchen- und Schulfragen freie Hand für ihre nationale Sonderentwicklung zu haben".

Nur alte Gewehre abgegeben

In erster Linie ging es den Albanern darum, so Schmitt, das Privileg zu behalten, keine Steuern zu entrichten, ihr Gewohnheitsrecht anzuwenden, nicht an Volkszählungen teilzunehmen und Waffen zu tragen. "Meistens wurden nur alten Gewehre abgegeben", erzählt er. Die Entwaffnung sei niemals erfolgreich gewesen. Führende albanische Eliten hätten auch aus Serbien und Montenegro Waffen bezogen. Und die Bergstämme mussten ihre Waffen ohnehin nicht abgeben. Denn Osmanen ging es darum, wenigstens die Ebenen zu kontrollieren. Schmitt nennt dies eine "Politik der Einhegung". Die Bevölkerung versuchte, sich dem Zugriff eines sich modernisierenden Staates zu entziehen, die regionalen muslimischen Eliten hingegen spielten Osmanen, Regional- und Großmächte gegeneinander aus.

Schmitt sieht durchaus Parallelen zum heutigen Kosovo, in dem es ebenfalls eine hohe internationale Präsenz gibt, etwa durch die Rechtsstaatlichkeitsmission Eulex und konkurrierende Interessen. "Und auch heute bedeutet das wieder, dass es verschiedene Optionen für die lokalen Kräfte gibt, die versuchen, die Vielzahl internationaler Akteure für ihre Zwecke zu nutzen."

Gewaltmonopol nicht durchgesetzt

Offensichtlich ist jedenfalls, dass die Osmanen damals ihr Gewaltmonopol nicht durchsetzen konnten. Im Hochland seien Raub, Kidnapping und Erpressung ein "akzeptierter Erwerbszweig" gewesen, so Schmitt. Das osmanische Erbe sei, was die staatliche Institutionen betrifft, "desaströs" gewesen. Es gab keine funktionierende Polizei, Justiz, Verwaltung. "Für die Untertanen war das ein Staat, der nicht erkenntlich machte, wofür man Steuern zahlte", so der Historiker. "Es wurde primär in den Sicherheitsapparat investiert. Und dieser funktionierte nicht", erklärt Schmitt.

Eine im Sinne des "Bandengesetzes eingesetzte Verfolgungskommission", die aus einem Kaimakam, einem Gendarmeriemajor und einem Infanteriehauptmann bestand und die sogar ein Bataillon Infanterie als Bandenverfolgungsbataillon zur Verfügung hatte, gelang es im Sancak Prishtina "auch nicht eines Mißetäters habhaft zu werden", schreibt etwa von Tahy. "Ein in Prischtina verhafteter, durch das Ipeker Gericht schon zuvor zum Tode verurteilter Mörder entsprang der begleitenden Gendarmerieeskorte auf dem Wege von Prischtina nach Ipek (heute Peja)."

Räuberchefs als Polizisten

Die Versuche einer Gleichbehandlung der Christen seit den 1860er-Jahren misslangen, erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts kam es erneut zu Anstrengungen in diese Richtung, und erstmals wurden Serben in den Polizeidienst aufgenommen. Die muslimische Mehrheit jedoch akzeptierte das nicht, so Schmitt. "In einem Fall mussten sich bedrohte osmanisch-serbische Polizisten in eine Militärkaserne retten."

Die Osmanen verwendeten Zuckerbrot und Peitsche. Mitunter wurden, einer alten Tradition folgend, Räuberchefs zu Polizisten gemacht. Die 1908 an die Macht gelangten Jungtürken wollten der Autorität des Staates mit massiver Gewalt Geltung verschaffen. Als dies zu scheitern drohte, kam 1911 Sultan Mehmed V. in den Kosovo, um sich – wie 1989 Slobodan Milošević von den Serben – von den Albanern auf dem Amselfeld in Erinnerung an die Schlacht von 1389 feiern zu lassen. Auch die Osmanen inszenierten also das Gedenken an diese Schlacht.

Wiener Verbindung zu den Ustascha

Nach dem Ende der Monarchie und in der Zwischenkriegszeit spielten die abgedankten Diplomaten und ihre balkanischen Verbindungsmänner in Wien übrigens nach wie vor eine Rolle. Dazu kam, dass auch viele Gegner des jungen Jugoslawien in Wien saßen. So wurde etwa die national-mazedonische IMRO (Innere Mazedonische Revolutionäre Organisation) beherbergt und auch die kroatischen Faschisten. Diese Wiener Verbindung von Ustascha und IMRO wurde bisher kaum erforscht, so Schmitt.

Bekannt wurde höchstens das Attentat von Mentscha Karnitschewa, einer Aktivistin der IMRO, die am 8. Mai 1925 den Führer einer konkurrierenden IMRO-Fraktion, Todor Panica, im Wiener Burgtheater mit drei Schüssen aus einem Revolver tötete. Panica war ein mit der Komintern sympathisierender makedonischer Gewaltaktivist, der zwei andere politische Aktivisten 1907 in Sofia hatte ermorden lassen. Karnitschewa wurde übrigens wegen ihrer schweren Krankheit (Tuberkulose) unter dem Beifall der christlichsozialen Presse nur zu acht Jahren Freiheitsstrafe verurteilt, was damals die minimale Strafe für eine solche Tat in Österreich war. (Adelheid Wölfl, 9.10.2015)