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Frühe Wingsuit-Experimente in den 1930er-Jahren: Der leidenschaftliche Sportler und Erfinder Hans Thirring (1888-1976) unterweist Skiläufer im Gebrauch der von ihm entwickelten Thirring-Mäntel, die es ermöglichen, mit Auftrieb über die Pisten zu schweben.

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Erfahrungen im Ersten Weltkrieg machten Thirring zum Pazifisten.

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Wien – Der letztgültige Beweis dieses vor 97 Jahren vorhergesagten Phänomens soll nächstes Jahr mit einer gerade laufenden Mission namens Lares erbracht werden. Und auch wenn Physiker immer noch darüber streiten, ob die Daten des Forschungssatelliten Gravity Probe B aus den Jahren 2004/05 genau genug waren, so gilt der sogenannte Lense-Thirring-Effekt seitdem als bestätigt.

Das, was sich so schwer messen lässt, wurde 1918 aus Albert Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie abgeleitet und ist zugleich auch ein Test derselben. Vereinfacht besagt der Effekt, dass eine rotierende Masse den Raum um sich wie eine viskose Flüssigkeit geringfügig mitzieht. Das bedeutet zum Beispiel, dass die Drehung der Erde die Eigenrotation von Satelliten minimalst beeinflusst.

Vorhergesagt wurde dieses Phänomen von zwei jungen, an der Universität Wien tätigen Forschern, die dadurch schnell berühmt wurden: dem aus Deutschland stammenden Astronomen und Mathematiker Josef Lense sowie dem Wiener Physiker Hans Thirring. Und obwohl Thirring im Laufe seines Lebens nicht nur in der Wissenschaft Großartiges leistete, bleibt sein Name doch vor allem mit diesem Effekt verbunden.

Nach Thirring ist indes auch ein Mantel benannt, den der sehr sportliche Wissenschafter in den 1930er-Jahren entwickelte. Das Kleidungsstück ist eine Art Wingsuit für Skifahrer, die so "federleicht und sicher den Hang hinunterschweben", wie Thirring formulierte. Und wer weiß: Vielleicht greift die Sportartikelindustrie Thirrings Schwebemantel in modifizierter Form wieder einmal auf.

Inhaber zahlreicher Patente

Das war freilich nicht die einzige Erfindung Thirrings, der ab 1921 Professor für theoretische Physik an der Uni Wien war: Er entwickelte eines der ersten Tonfilmsysteme und Skibindungen, für die sich sogar sein deutscher Kollege Werner Heisenberg interessierte. Außerdem legte er mit seinen Verbesserungen sogenannter Selenzellen die Grundlagen für heutige Lichtschranken, Alarmanlagen und Sensoren.

Mit lichtelektrischen Geräten bekam es der 1888 in Wien geborene Thirring, der unter anderem mit Erwin Schrödinger bis 1910 Physik und Mathematik studiert hatte, bereits während des Ersten Weltkriegs zu tun. Thirring war als Freiwilliger eingerückt, doch seine Einstellung sollte sich bald ändern. Nach dem Krieg erklärte er, wenn überhaupt, lieber auf den sadistischen Feldwebel der eigenen Kompanie geschossen zu haben als auf irgendeinen Feind.

Dass Thirring zum überzeugten Kriegsgegner und Antimilitaristen konvertierte, wurde aber wohl auch dadurch bestärkt, dass sein Lehrer Fritz Hasenöhrl, der seinerseits wichtige Beiträge zur Relativitäts- und zur Quantentheorie geliefert hatte, am 7. Oktober 1915 – also vor genau 100 Jahren – an der Front fiel. In diesem Jahr habilitierte sich Thirring, übernahm ab 1916 Hasenöhrls Vorlesungen – und hinterließ bei seinen Schülern bleibende Eindrücke. So meine Victor F. Weisskopf, späterer Cern-Direktor, dass er Thirrings Vorlesungen nie vergessen habe: "Sie waren ein intellektueller und ästhetischer Genuss. Von ihm habe ich auch gelernt, dass die Wissenschaft ihre sozialen Seiten hat und dass der Wissenschaftler für eine bessere Welt kämpfen muss."

An der Uni Wien, die nach dem Ersten Weltkrieg immer stärker von Antisemiten und Nazi-Sympathisanten beherrscht wurde, hatte Thirring, der selbst Protestant war, mit immer größeren Schwierigkeiten zu kämpfen. Der Physiker war einer der wenigen Professoren der Uni Wien, die in den 1920er-Jahren keine Vorlesungen hielten, wenn rechte Studentenverbände versuchten, jüdischen Studenten den Zutritt zu verunmöglichen.

Eine Schlüsselaffäre

Ab 1926 etwa wollte er seinen Assistenten Otto Halpern habilitieren, ein brillanter theoretischer Physiker jüdischer Herkunft. Doch die antisemitische Professorenschaft der Philosophischen Fakultät wusste das zu verhindern. Halpern scheiterte nach mehr als sechs Jahren. Die vom Verwaltungsgerichtshof Ende 1932 bestätigte Begründung der Uni Wien: Halpern habe als 21-Jähriger einen Institutsschlüssel verloren und angeblich seinem Vorgesetzten Thirring, der die Angelegenheit längst vergessen hatte, nicht die Wahrheit gesagt.

Ab Mitte der 1930er-Jahre wurde Thirring dann noch aktiv in der Friedensbewegung aktiv. Als Vertreter Österreichs nahm er 1936 an der Konferenz einer internationalen Friedensvereinigung, des Rassemblement Universel pour la Paix, teil – Thirrings erster öffentlicher Auftritt als Pazifist und Antifaschist, wie der Wissenschaftshistoriker Wolfgang Reiter rekonstruiert hat.

Als der Physiker dann im Februar 1937 in Wien einen Vortrag über "Die Krise der Kultur und der Wissenschaft" halten wollte, verbot ihm das Rektor Leopold Arzt, weil Thirring mit den Zuhörern die "faschistische Kriegsgefahr" diskutieren wollte. Nach dem "Anschluss" wurde Thirring zwangsbeurlaubt – auch deshalb, weil er sich mit der "jüdischen" Relativitätstheorie befasste, mit Einstein und Freud befreundet war und "wehrkraftzersetzende" Haltungen vertrat.

Thirrings radikaler Plan

Thirring verlor im Zweiten Weltkrieg seinen Sohn Harald, der in die Fußstapfen des Vaters hätte treten sollen. So musste ihm Sohn Walter nachfolgen, der nach 1945 zu einem der bedeutendsten Physiker des Landes avancierte und wesentlich zum Aufschwung der Physik an der Uni Wien beitrug.

Hans Thirring engagierte sich nach 1945 umso stärker für den Frieden: Als Reaktion auf die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki verfasste der Physiker 1946 das Buch "Die Geschichte der Atombombe", in dem er bereits die Wasserstoffbombe vorwegnahm und ihren Zünder korrekt beschrieb. Das letzte Kapitel widmete sich dem Thema "Atombombe und Weltfrieden", das auch die nächsten drei Jahrzehnte seines Lebens bestimmen sollte.

Das war freilich alles andere als eine einfache Aufgabe: Thirring wurde ein ideologisches Opfer des Kalten Kriegs und insbesondere in den USA als Kommunist denunziert. Dahinter steckte vermutlich sein Nachfolger nach 1938, der nach seiner Entnazifizierung, an der Thirring als Dekan 1946/47 beteiligt war, zum CIA überlief. Nichtsdestotrotz nahm Thirring als Gründungsmitglied ab 1957 an der Pugwash-Bewegung teil, einer nach einem kanadischen Fischerdorf benannte Friedensinitiative von Wissenschaftern im Gefolge des Russell-Einstein-Manifests.

Thirring organisierte 1958 in Kitzbühel und Wien die dritte der vielen Pugwash-Konferenzen, denen ein entscheidender Anteil am Atomteststopp im Jahre 1963 und dem Atomwaffensperrvertrag zukam. Als SPÖ-Bundesrat propagierte Thirring auch die einseitige und völlige Abrüstung Österreichs, die als Thirring-Plan bekannt wurde, 1963 im Parlament einen Tumult auslöste und ihm zwei Nominierungen für den Friedensnobelpreis eintrug.

Den erhielt Thirring zeit seines Lebens zwar nie – dafür aber Józef Rotblat, der 1995 stellvertretend für die Pugwash-Konferenzen damit ausgezeichnet wurde.

PS: Kürzlich wurde dem in Kalifornien lebenden Chemienobelpreisträger Walter Kohn, der als Jugendlicher von den Nazis vertrieben worden war, eine weitere Ehrung aus Wien angetragen. Kohn reagierte skeptisch und mit einer Frage: ob jemand wie Hans Thirring, der sich schon lange vor 1938 für jüdische Studierende und Mitarbeiter eingesetzt hatte, schon ausreichend geehrt worden sei. (Klaus Taschwer, 7.10.2015)